Nur noch Wut im Bauch – oder: Warum lassen wir uns alles gefallen?!
von Roland Spitzer
Vergangenen Donnerstag war ich wieder einmal auf der „Montagsdemo“ in unserer Stadt. Nun sind nahezu zwei Jahre seit der ersten Demonstration vergangen. Waren es Anfangs noch ca. 4500 BürgerInnen, welche sich in an dieser Demo beteiligten, so ist heute nur noch ein bescheidener Rest von 50 bis 100 TeilnehmerInnen verblieben. Natürlich bin ich froh, dass diese Menschen die Kraft aufbringen, sich jede Woche zusammen zu finden, um gegen die Missstände in unserem Land zu demonstrieren. Gleichzeitig frage ich mich aber auch, warum ich nicht mehr regelmäßig an diesen Demonstrationen teilnehme, und dies ungeachtet der Tatsache, dass ich mit dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem bei weitem keinen Frieden schließen kann!
Doch was ist geschehen? Wenn ich auf einer dieser Demos teilnehme, dann empfinde ich mich wie ein Fremdkörper! Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass zwei Jahre intensiver Zusammenarbeit auch ein Gefühl besonderer Verbundenheit hervorbringen. Dennoch darf dies nicht dazu führen, dass Fremde auch als Eindringlinge in eine verschworene Gemeinschaft empfunden werden. Andererseits hat sich an den Diskussionsbeiträgen substantiell nicht viel geändert, denn es geht meist nur darum, das besondere Leiden unter ALG II darzustellen. Doch es kommt noch schlimmer! In vielen Beiträgen musste ich feststellen, dass ein Wettbewerb darum entbrannt ist, wer wohl am meisten leidet, und das eigene Leiden ist natürlich unübertroffen! Um nicht missverstanden zu werden – ich weiß sehr wohl, dass es eine Zumutung ist, mit ALG II auszukommen, und Proteste dagegen notwendig sind. Doch ziehe ich nach zweijährigen Protesten Bilanz über das Erreichte, so lande ich sehr schnell auf dem harten Boden der Realität:
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Die Enteignung des finanziellen Mittelstandes, eingeleitet durch die Sozialdemokraten, wird immer schneller vorangetrieben!
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Wer nach dem Verbrauch seiner finanziellen Ressourcen auf Unterstützung durch ALG II angewiesen ist, wird als gesellschaftlicher Schmarotzer und faules Individuum diffamiert.
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Um den kargen Lebensunterhalt nicht zu verlieren, werden die Menschen in 1 Euro Tätigkeiten getrieben, in welchen sie auf höchstem Niveau ausgebeutet werden!
Neben den Einschränkungen im ALG II Bereich gibt es natürlich viele weitere Kürzungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die betroffenen BürgerInnen setzen sich ebenfalls zur Wehr, einzeln, und gut getrennt von anderen Betroffenen. So kann es durchaus geschehen, dass im Laufe einer Woche tatsächlich Ein- oder Zweitausend Menschen in einer größeren Stadt gegen die Politik dieses Staates protestieren. Das aber in wohldosierten Mengen von 50 bis vielleicht 200 Personen. Doch sind geringe Dosierungen einfach nicht bedrohlich. Nicht kleine Dosierungen, sondern große Mengen, und zum richtigen Zeitpunkt wirken!
Aber was ist mit den vielen Betroffenen, die erst gar nicht versuchen, sich gegen den sozialen und gesellschaftlichen Kahlschlag zu wehren? In Berlin sind es über 40 % der Bevölkerung, die von ALG II betroffen sind, in vielen Ostdeutschen Städten sieht es auch nicht anders aus. Studiengebühren werden eingeführt, Leistungen der Krankenversicherungen gestrichen, Schulen verrotten, gekürzt wird in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Man ist auf dem besten Weg, 80 % der Bevölkerung auf ein Existenzminimum zu reduzieren, welches ein wirklich erfülltes und kulturelles Leben nicht mehr erlaubt. Diese Menschen werden dann noch als faule Schmarotzer der Gesellschaft diffamiert. Ihnen wird eingeredet, dass sie ihre Lage selbst verschuldet haben, da sie nicht genügend dynamisch und flexibel seien, um in der heutigen, globalisierten Welt zu überleben. Leider glauben noch zu viele Menschen an diesen Unfug. Sie verstecken sich, versuchen alles, was möglich ist, zu versilbern, nur damit niemand ihre tatsächliche Lage entdeckt und sie auch als faules, und in dieser Gesellschaft lebensunfähiges Individuum einstuft. Geht gar nichts mehr, dann wird der letzte Strohhalm ergriffen, den uns die Politik bereitgestellt hat. Willig versucht man einen 1 Euro Job zu ergreifen, um nicht als Schmarotzer dazustehen, und andererseits wenigstens nicht ganz aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein.
Neben den 1 Euro Jobs hat sich auch noch eine zweite Form der extremen Ausbeutung etabliert. Dies sind Betriebspraktika, welche gerade junge AbsolventInnen ableisten, in der Hoffnung, dass ihre eigenen Fähigkeiten erkannt, und sie in ein bezahltes Arbeitsverhältnis übernommen werden. Das dem nicht so ist, zeigt sich in vielen PraktikantInnen Karrieren, welche davon geprägt sind, dass sich ein gar nicht, bis dürftig bezahltes Praktikum an das nächste reiht. Es sind die Praktika, welche an Stelle regulär bezahlter Tätigkeiten getreten sind. Nicht Computer übernehmen die Tätigkeiten der vielen abgebauten Stellen – es sind PraktikantInnen, welche zuvor regulär bezahlte Tätigkeiten nun teilweise ganz ohne Bezahlung übernehmen. Dies spiegelt sich auch in den Stellenangeboten großer Konzerne wider.
1 Euro Jobs, Praktika und geringfügig bezahlte Tätigkeiten bilden die Grundlagen einer modernen Versklavung, in die sich viele Menschen auch noch freiwillig begeben. Politiker unterstützen diesen Versklavungsprozess durch eine entsprechende Gesetzgebung und nennen dies notwendige Anpassung an die Erfordernisse der globalisierten Welt. Diesen Unsinn glauben auch viele Menschen!
Gleichzeitig wird versucht, uns einzureden, dass Kürzungen auf allen Ebenen notwendig sind, um unsere Gesellschaft weiterhin am Leben zu halten. Wenn dies jedoch bedeutet, dass 80 % der Mitglieder dieser kaum noch das notwendigste zum Überleben haben werden, dann sei auch die Frage erlaubt, ob es genau dieses Gesellschaftsmodell ist, welches wir zukünftig aushalten wollen. Wo bleibt der Aufschrei, und warum lassen die Menschen sich diese Politik gefallen?!
Zumindest meinen viele Menschen durch Wahlverweigerung die Politik abzustrafen. Sie sind zu einem großen Teil auch der Auffassung, dass wir von unfähigen PolitikerInnen regiert werden. Dieser Eindruck erscheint auch richtig, wenn man nur an das Durcheinander bei der so genannten Gesundheitsreform denkt. Die Medien vermittelten uns ein Bild von nur streitenden Koalitionsparteien. Da sagt der Struck etwas, und der Stoiber ärgert sich, oder auch umgekehrt. Aber über inhaltliche Probleme wird nicht mehr berichtet. So werden allein mit der Gesundheitsreform viele Menschen auf grundlegende Leistungen verzichten müssen, weil sie einfach nicht das Geld haben, sich diese zu kaufen.
So unfähig und zerstritten, wie sich die Regierung gibt ist sie aber doch nicht. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn es gilt, den Unternehmen noch mehr zukommen zu lassen. Sei es als Steuernachlass, als Subvention, oder auch als direkte finanzielle Zuwendung. Hier herrscht Einigkeit, und in aller Stille werden Gesetze verabschiedet, welche diese Finanztransfers begünstigen. Um die Gier der Unternehmen und Aktionäre noch besser befriedigen zu können, hat man auch gleich eine Lösung gefunden – die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Der Kompromiss, welcher zwischen den Koalitionsparteien gefunden wurde, lag weit über den Erwartungen des politisch machbaren.
Auch hier gibt es keinen ernsthaften Aufschrei in der Gesellschaft. Die Menschen nehmen es hin, ohne sich dagegen zu wehren. So, als wäre gesellschaftliche Entwicklung naturgegeben, ein Prozess, den die Menschen nicht beeinflussen können. Dabei bräuchten wir nur ein neues Wir – Gefühl, ein Verständnis dafür, dass wir Entscheidungen über Prozesse, die unser Leben wesentlich beeinflussen, nicht irgendwelchen Personen überlassen dürfen. Personen, die meinen, wenn sie erst einmal gewählt wurden, nicht ihren Wählern, sondern ihrem Gewissen gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein. Müssten diese PolitikerInnen vor ihren WählerInnen Rechenschaft ablegen, dann könnte es durchaus sein, dass der Eine, oder die Andere für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen wird. Und dies auch, wenn notwendig, im rechtlichen Sinne. Doch ein Gewissen fragt nicht, es ist auch nicht klar definierbar und jed(e)r versteht etwas anderes darunter. Man braucht nur sagen: „Das kann ich mit meinem Gewissen vereinbaren“, und schon ist jede Handlung legitimiert.
Ist das bestehende Parteiensystem überhaupt in der Lage, die für uns wichtigen Zukunftsfragen zu lösen, oder muss auch dieses hinterfragt werden? Der letzte und viel beachtete Versuch der Gründung einer neuen Partei scheint nicht das erreicht zu haben, was sich viele BürgerInnen in diesem Land gewünscht haben. Der anfänglichen Euphorie folgte eher eine große Ernüchterung. Nun ist die WASG auf dem besten Weg, sich mit der PDS zur Linkspartei zu vereinigen, und schon bildet sich eine Linke Opposition innerhalb der WASG, welche dann wohl auch in der Linkspartei weiter bestehen wird. Allein die Bezeichnung Linke Opposition in der Linkspartei ist ziemlich verwirrend. Sie resultiert aber auch daraus, dass der Begriff Links überhaupt nicht definiert ist. Und aus der Tatsache, dass die Abgeordneten links vom Parlamentspräsidenten saßen und deshalb die damals betriebene Politik dieser als Links bezeichnet wurde, lässt sich auch nichts Substantielles ableiten. So glaubt jede Bewegung, welche sich als Links bezeichnet, auch die einzig richtige Definition für das als Links bezeichnete politische Handeln gefunden zu haben. Dies führt zwangsläufig zu Auseinandersetzungen untereinander, welche viele Kräfte binden, so dass es gar nicht erst zu einer tief greifenden politischen Handlungsfähigkeit kommt. Das freut den politischen Gegner und stößt die Menschen in unserer Gesellschaft ab. Statt den Menschen attraktive Vorschläge und Entwürfe für ein würdiges Miteinander zu unterbreiten, werden ihnen am laufenden Band interne Querelen und Diskussionen geboten, welche jedwedes politisches Interesse erlahmen lassen.
Dabei scheue ich mich mittlerweile selbst davor, den nicht näher definierten Begriff „links“ zu verwenden, denn jeder versteht etwas anderes darunter und je mehr Definitionen es gibt, desto schwieriger ist es, die eigene Position darzustellen. Ist es nicht wichtiger, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse permanent zu hinterfragen, um herauszufinden, ob diese überhaupt geeignet sind, uns Antworten und Lösungen für die drängenden Zukunftsprobleme zu geben?
Heute wird allgemein davon ausgegangen, dass im Wachstum einer Volkswirtschaft auch deren Zukunftschancen liegen. In den vergangenen Jahrzehnten führte diese Auffassung dazu, dass wir heute ökologisch vor einem Scherbenhaufen stehen. Wir haben bereits Klimaveränderungen erleben müssen, die uns sehr deutlich zeigen, dass wir ökologische Prozesse überhaupt nicht beherrschen. Wir betreiben Raubbau an unseren Ressourcen, so als ständen uns noch drei, oder vier Erden zur Verfügung. Nicht der Kampf gegen Terrorismus wird unser zukünftiges Leben bestimmen, sondern der Überlebenskampf in den ökologischen Katastrophen, welche wir durch unser Handeln selbst verursacht haben.
Moderne Gesellschaften werden nicht daran gemessen werden, wie groß das Wachstum ist, und wie oft wir Dinge austauschen, nur um ein noch größeres Wachstum zu erzielen. Moderne und überlebensfähige Gesellschaften werden sich durch eine besonders ressourcenschonende Lebensweise auszeichnen. Dafür müssen alle unsere bisherigen Werte und Erfahrungen auf den Prüfstand gestellt werden.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem diese Aufgabe nicht bewältigen kann. Gemeinsam müssen wir nach neuen Lösungen suchen. Dabei können verschiedene Ansätze nebeneinander existieren. Wir brauchen völlig neue Elemente der demokratischen Entscheidungsfindung. Wenn es uns gelingt, den Menschen glaubwürdige und realisierbare Perspektiven aufzuzeigen, welche in eine Gesellschaft führen, in der sich nicht ein kleiner Teil auf Kosten der Masse der Bevölkerung bereichert und dabei die Lebensgrundlagen Aller zerstört, dann haben wir auch eine reale Chance, dass sich Menschen wieder aktiv einmischen und die Gestaltung ihrer Gesellschaft nicht irgendwelchen Personen überlassen. Doch das ist ein langer, und schwieriger Weg. Und bis dahin werde ich meine Wut im Bauch behalten! |