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Wirtschaft
 

„Agenda Klassenkampf - wie lange hält der soziale Friede?“

Interview mit Horst Afheldt

Hörprotokoll der Sendung vom 09. März 2005 bei HR2 – „Der Tag“. Aufgeschrieben von E. Hesse und R. Spitzer

„Die sozialen Aufwendungen sind jetzt auf einer Höhe angelangt, die die Wirtschaft auf Dauer in diesem Umfang nicht tragen kann. Aller Voraussicht nach werden die Leistungsanforderungen ständig weiterwachsen, während die Einnahmen einen Stillstand, teilweise ein Absinken zeigen. Grundlegende Reformen sind daher nötig. Die Lage der Finanzen der öffentlichen Haushalte dürfte eher einen erheblichen Abbau der von diesen bisher bezahlten Zuschüssen erfordern, als eine weitere Erhöhung oder Vermehrung gestatten. Will man die Sozialversicherungen im weitesten Sinn auf die Dauer für ihren wahren Zweck erhalten, muss man sich entschließen, schnell mit kräftiger Hand an eine durchgehende Reform der Leistungen zu gehen, mit dem Ziele, den wirklich Bedürftigen und Notleidenden in einem ausreichenden Maße zu helfen. Dagegen darf man sich nicht scheuen, alles nicht unbedingt Erforderliche - selbst wenn es wünschenswert zu erscheinen mag - zu streichen.“

Das war keine aktuelle Verlautbarung aus irgendeiner deutschen Vorstandsetage, das hat ein gewisser Major a.D. Adolf von Bülow zum Besten gegeben, im Jahre 1929, auf einer Tagung der Gesellschaft für Sozialreform. Aber falls Sie anders getippt haben sollten - beim Bundesverband der Industrie wäre diese Analyse auch heute wohl noch mehrheitsfähig! Die Wirtschaft sieht sich im Würgegriff des Sozialstaats.

Das ist die eine Seite des Problems, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen. Die andere Seite, die heißt 5,2 Millionen. 5,2 Millionen Arbeitslose gibt die Regierung mittlerweile zu. Die Nation, die schüttelt verzweifelt den Kopf. Man hat das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmen kann:

Die Allianzgruppe zum Beispiel, verdiente im Jahr 2004 dreimal so viel wie im Jahr zuvor. Die Mitarbeiterzahl wurde aber um 17 Prozent reduziert!

RWE erzielte einen mehr als doppelt so hohen Gewinn, stutzte die Beschäftigtenzahl aber um ein Fünftel herunter!

Bei BASF vielen 63 Prozent mehr Gewinn an. Die Beschäftigtenzahl wurde aber um 15 Prozent gesenkt!

Auch bei der Deutschen Telekom strich man satte Gewinne ein. Die Mitarbeiterzahl blieb konstant. Das Unternehmen wird aber in den beiden kommenden Jahren rund 10.000 Arbeitsplätze abbauen! Gleichzeitig will man, so wird kolportiert, im kommenden Jahr mit 7 Milliarden € den höchsten Gewinn erzielen, den die ein deutsches Unternehmen erwirtschaftet hat!

Siemens verkündete Ende Januar ein Gewinn plus von mehr als einem Drittel, kündete dann aber ebenfalls getreu der Shareholder Logik den Abbau von 1250 Stellen an!

Bei der IT Tochter Siemens Business Systems sollen in den kommenden Monaten 1000 Arbeitsplätze vernichtet werden.

Sieh’mal an, Gewinne wo man nur hin schaut - und trotzdem geht der Stellenabbau weiter. Geht jetzt schon weiter. Und er wird noch weitergehen. Wahrscheinlich noch sehr viel weiter…

Wir hatten in der „Tag Redaktion“ kürzlich Besuch von einem Wirtschaftsexperten, der lieber nicht genannt werden möchte, der aber gerade eine Rundreise durch einige deutsche Großunternehmen hinter sich hatte. Und er sagte, es wird weiter gefeuert was das Zeug hält, und wir würden 9 Millionen Arbeitslose haben - und zwar am Ende dieses Jahres! Wie bitte?!? Jawohl, 9 Millionen Arbeitslose am Ende dieses Jahres. Was, haben wir uns dann gefragt, was wird dann in dieser Republik los sein? Wie lange wird der soziale Frieden dann noch halten oder stehen uns bald Szenarios wie dieses ins Haus?

„Februar 2006: Siemens unter Druck! Um die feindliche Übernahme durch General Electrics abzuwehren, kündigt Elektronikkonzern Siemens die Streichung von weiteren 8000 Stellen an. Vorstandsvorsitzender Heinrich von Pierer will Siemens damit fit machen für die Abwehrschlacht. Der US-Konzern General Electric hatte schon vor vier Jahren angekündigt, er wolle Technologieführer in Europa werden. Danach gegen die Amerikaner auf Einkaufs Tour. Jetzt wollen Sie mit Siemens den größten Brocken schlucken und haben den Aktionären des Übernahmekandidaten ein Angebot gemacht. Das allerdings bewerte die Aktie viel zu schlecht, kontert der Siemens-Vorstand und sorgt dafür, dass der Kurs steigt. Bei der Bilanzpressekonferenz quittieren die Aktionäre den Rekordgewinn des vergangenen Jahres mit lang anhaltendem Applaus. “Noch nie hat der Konzern so gesund da gestanden!“ verkündet Siemens-Chef Heinrich von Pierer. Mit einer weiteren Verschlankung, der Konzentration auf das Kerngeschäft und dem Ausbau der Forschung will von Pierer den Wert des Konzerns weiter steigern und die Eigenständigkeit erhalten. Dafür müssen allerdings noch einmal Tausende von Mitarbeitern gehen. Nur so, sagt von Pierer, kann Siemens deutsch bleiben. Der Betriebsrat wirft dem Vorstand vor, einen Konzern in deutscher Hand halten zu wollen, der nach der stromlinienförmigen Marktausrichtung aber keine Mitarbeiter mehr in Deutschland habe.“

Müssen wir in Zukunft mit solchen Szenarios rechnen, wie wird die Gesellschaft darauf reagieren? Ist der soziale Friede noch zu retten? Das fragt sich heute HR 2-der Tag.

Aber wir wollen zunächst noch ein wenig Ursachenforschung betreiben. Warum gerät der bundesdeutsche Sozialstaat scheinbar so unweigerlich unter Druck? Ich bin verbunden mit dem Hamburger Politologen Hans Afheldt, der Autor des Buches "Wirtschaft, die arm macht, vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft.“

„Schönen Guten Abend Herr Afheldt!“

„Guten Abend Herr Mentzer“

M: Herr Afheldt, ‚Wirtschaft die arm macht’ - dass ist eine Frage der Perspektive. Deutschland ist ja mitnichten ein armes Land. Wo liegt das Problem?

A: „ Nun, das Problem liegt daran, dass dieser derzeitige Zustand Deutschlands, den Sie richtig beschreiben als einem noch nicht armen Land, ein Übergangszustand ist. Wir haben hier schon in der Sendung angesprochen: die wachsende Arbeitslosigkeit hat ja mit Reichtum nichts mehr zu tun. Das bedeutet Armut, und wir stehen vor der Frage: ‚Woher kommt das und was kann gemacht werden?’ “

M: Sie schreiben in Ihrem Buch, das Sozialprodukt in diesem Land verschiebt sich weg von der Arbeit, hin zum Kapital. Das müssen Sie uns mal erklären. Was meinen Sie damit?

A: „ Nun, seit Mitte der 70er Jahre verdoppelte sich unser Sozialprodukt. Diese 100 Prozent Wachstum brachten aber nur die Erhöhung der Arbeitslosigkeit von 250 Tausend auf fünf, sechs oder 8 Millionen oder wie sie rechnen wollen. Das ist eine Verschiebung. Der zweite Punkt, der daraus hervorgeht, ist, wie wollen Sie durch Wachstum Arbeitslosigkeit beseitigen, wenn 100 Prozent nicht genügt haben? Was wollen Sie da machen, so kann man doch nicht weiterkommen. Die Frage: ‚Handelt es sich um ein Verteilungsproblem?’ schließt sich dann wohl an“

M: Und die würden Sie bejahen? Wo wird da momentan hin verteilt? Von den Lohnempfängern hin zu den Kapitalgesellschaften?

A: „Das ist ein mehrfaches Verteilungsproblem. Die erste Frage ist die Frage: Warum verschwinden die Einkommen der Lohnabhängigen? Dann stellt man fest, dass zunächst einmal aus der Wirtschaft sehr viel weniger herauskommt. Die Wirtschaft verbraucht immer mehr von dem, was sie produziert für sich selber.

Sie bekommt es einmal in der Form von Subventionen. Dazu kommen Zuleistungen, wie beim Airbus A-381, z. B. eine Landebahn durch ein Naturschutzgebiet. Es geht um die Flussvertiefungen für Handelsschiffe oder Werften. Die Grundstücksaufschließungen und andere Hilfen aller Art, die alle Gemeinden den Firmen bieten, die mit Ansiedlungen neuer Unternehmen winken. Alles dabei: Straßenbau für die unendlichen Lastwagenkolonnen, die diese Form von Wirtschaft braucht usw.. Und das steigt und steigt.“

M: Warum resultiert das nicht in mehr Arbeitsplätzen? Es wird viel investiert, es werden den Unternehmen viele Mittel zur Verfügung gestellt, warum tut sich dann auf der Arbeitsplatzseite nichts?

A: „Nun, zunächst mal müssen wir feststellen, wo das Produzierte bleibt. Und dann können wir sehen, warum es bei der Arbeit nicht ankommt. Und dieses Produzierte bleibt eben, zum Beispiel, bei diesen Aufschüttungen von Straßen und so weiter, bleibt bei relativ kapitalstarken Unternehmen. Der weitere Punkt aber ist, dass die öffentlichen Leistungen, wie zum Beispiel Universitäten, Schulen, Kindergärten usw. immer schwieriger zu bezahlen sind. Bei genau dieser Wirtschaft, in der verbraucht, immer weniger Steuern bezahlt. Und dann drittens haben wir eine Aufspaltung der Gesellschaft in sinkende Einkommen der abhängig Beschäftigten und schnell steigende Einkommen aus Eigentum in Unternehmen und Vermögen. Aber diese Einkommen wiederum, konzentrieren sich noch einmal zu Gunsten der großen Unternehmen und der großen Vermögen. Aber das ist ein allgemeiner Trend dieses Wirtschaftssystems. Wir sind da noch relativ zurück.“

M: Zurück hinter anderen Staaten im westeuropäischen Bereich? Wo führt diese Entwicklung hin? Was sind dann die real existierenden Vorbilder, an denen wir uns dann orientieren müssen?

A: „Na ja, guckten wir uns das mal an. In der Bundesrepublik haben die reichsten 10 Prozent aller Haushalte über 47 Prozent der Vermögen. Das ist, wie gesagt, noch zurück. Die Engländer sind schon weiter auf dem Weg, den wir auch gehen. Ein Prozent der Bevölkerung haben 23 Prozent des englischen Vermögens. Die USA liegen an der Spitze. Sie geben ja die Richtung an. Dort haben ein Prozent der Bevölkerung nicht 23 Prozent der Vermögen wie in England, sondern 45 Prozent. Und schon zwischen 1983 und 1998 verloren die ärmsten 40 Prozent der Amerikaner mehr als dreiviertel Prozent ihres sonst bescheidenen Vermögens.“

M: Wie kann der Staat da gegensteuern, Herr Afheldt? Wie kann man diese Entwicklung aufhalten?

A: „Diese Entwicklung können Sie innerhalb des bestehenden Systems überhaupt nicht aufhalten, das System ist so angelegt, dass sich im Konkurrenzkampf der stärkere durchsetzt. Innerhalb dieses Systems, innerhalb des Systems des offenen Weltmarktes für Wohlstand für alle dauerhaft zu sorgen, den Weg gibt es nicht. In diesem System ist die Aufspaltung der Gesellschaft nach dem Vorbild der Sozialstruktur der Entwicklungsländer unvermeidlich. Reiche Oberschicht, schwache Mittelschicht, arme Massen.“

M: Das heißt, wir müssten uns aus dem globalen Wettbewerb auskoppeln, um da gegensteuern zu können?

A: „Jetzt sind Sie bei dem Versuch, eine Lösung zu finden und dieser Versuch ist außerordentlich schwierig, den kann man nicht so kurz machen. Man müsste auch über so etwas nachdenken, ob zum Beispiel die Aufspaltung eines Weltmarktes in größere Regionen wie Europa usw..

Denkbar ist die ihrerseits, nach ihren jeweiligen Bedürfnissen frei, oder weniger frei handeln. Das ist eine sehr schwierige Sache, die man, da kein Mensch darüber arbeitet, weil man immer noch probiert, im System eine Lösung zu finden, bisher nicht hinreichend vorbereitet hat.“

M: Vielen Dank. Herr Afheldt, ich glaube, dann haben wir auch keine Zeit mehr, diese Lösung hier im Detail zu erörtern. Ich glaube, wir sollten das dann den Experten überlassen. Danke Ihnen vielmals für Ihre Gesprächsteilnahme, Herr Afheldt.

A: „Ich danke auch.“

Das war Horst Afheldt. Sein Buch „Wirtschaft, die arm macht, vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft.“ Im Grundmann Verlag erschienen zum Preis von 12 €.

(Anmerkungen der Autoren: Horst Afheldt, geb. 1924, war von 1960-70 Geschäftsführer der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Danach Studienprojekte über friedenspolitische, ökologische und ökonomische Grundfragen am "Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt" in Starnberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Sozialstaat, Sicherheits- und Friedenspolitik. 1994 erschien sein vielbeachtetes Buch "Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entlässt ihre Kinder". Horst Afheldt lebt in Hamburg. )

 

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