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Verfassung und Grundrechte
 

Splitter, Augenblicke und einige Reflexionen meiner Prozessbeobachtung

von Wolf-Dieter Narr

Ostersonntag, den 8.4.2007

Vorbemerkung: Die Antirassistische Initiative organisierte anlässlich des Oury Jalloh-Prozesses, genauer des Verfahrens gegen die staatsanwaltlich Angeklagten Polizeibeamten Schubert und März vor dem Landgericht zu Dessau eine Prozessbeobachtung einer international ausgewählten Gruppe von Teilnehmenden. Als Mitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie gehörte ich dazu. Die erste Etappe des Verfahrens gegen Schubert/März fand vom 27.3. bis zum 30.3. 2007 in Dessau statt. Wie lange es währen wird, ist ungewiss. Es dürfte sich bis tief in den Juni 2005 erstrecken. Die Mitglieder der Dessauer Polizei Schubert und März sind der Körperverletzung durch Unterlassung bzw. der fahrlässigen Tötung halber angeklagt. Am 7. Januar 2005 ist der gerade 21-jährige Oury Jalloh gefesselt bei lebendigem Leib im kellergeschossigen „Gewahrsamtrakt“ des Dessauer Polizeigebäudes und dort der Zelle 5 kurz nach 12 Uhr mittags verbrannt/erstickt.

Alle Einzelheiten dieses schrecklichen Todes sind fragwürdig. (1) Warum haben zwei Frauen, die Oury Jalloh am Morgen des 7. Januar um 8.30 Uhr herum bei ihrer Arbeit im Freien belästigt haben soll, sogleich die Polizei gerufen – von sexueller Belästigung oder gewaltsamen Übergriffen wurde von den als Zeuginnen am 28.3.2007 noch einmal vernommenen Frauen nicht gesprochen. Auch von einer Alkoholfahne wurde nicht berichtet, allenfalls von seltsamem wie unter Drogen stehendem Verhalten (das mühelos auf Sprachschwierigkeiten des aus Sierra Leone stammenden Oury Jalloh zurückgeführt werden könnte). (2) Warum hat die herbeigerufene Polizei Oury Jalloh, der sich wohl ein wenig wehrte, sogleich mit Handschellen gekettet und ins Polizeigebäude gebracht. (3) Warum ist Oury Jalloh dort, auch wenn er sich nach wie vor unwillig festnehmen und festhalten ließ, in der Zelle 5 des sogenannten Gewahrsamtrakts auf einer Matratze an Händen und gespreizten Füssen gefesselt und liegen gelassen worden? (4) Warum hat der herbeigerufene Mediziner, der Oury Jalloh Blut abnahm und feststellte, er stehe unter Alkohol- wie Drogeneinfluss, die polizeilich repressive Überdetermination, des gefesselten Zwangsliegens von Oury Jalloh geduldet? (5) Wie kommt es, dass nicht fortlaufend nach Oury Jalloh gesehen worden ist. Genügen die neuerlichen Abhör- und Brandalarmtechniken, einen zeitweilig Inhaftierten und dazuhin ohnmächtig Gefesselten a-sozial technisch „gewahrsam“ zu überwachen? (6) Warum hat der Polizeibeamte Schubert drei Stockwerke vom zwangsgelegten Oury Jalloh entfernt – ca. 60 Meter – Geräusche, auch Brandalarmzeichen indolent mehrere, mutmaßlich entscheidende Minuten lang leiser gestellt und ignoriert? (7) Wie ist es möglich, dass der vorweg, als er nämlich in Haft genommen worden war, von zwei Polizeibeamten, darunter Herrn März körperdetailiert abgetastete Oury Jalloh, ein Feuerzeug verstecken konnte, mit dem er dann gefesselt seine an sich schwer brennbare Matratze entzündet haben soll; und diese so schnell brannte/qualmte, dass er daran in wenigen Minuten verbrannte und erstickte?

Diese Fragen sind nicht genug. Rund um jede einzelne ergeben sich weitere. Sie beziehen zusätzliche Personen, vor allem im Polizeigebäude Beschäftigte und die Organisation der Polizei in Dessau insgesamt in die nötige Detektei, also die Aufdeckung des Geschehens und seines institutionellen wie persönlich habituellen Kontextes ein. Ich habe nur einige davon aufgelistet, um die folgenden Informationen, Wahrnehmungen und Feststellungen meinerseits Dritten einigermaßen nachvollziehbar zu machen.

I. Meine Beobachtungszeit: vom Dienstag, den 27.3. 2007 gegen 8.30 Uhr bis Donnerstag, den 29.3.2007 gegen 16.30 Uhr. Die meisten Mitglieder der Beobachtungsgruppe nahmen am gesamten ersten Abschnitt teil. Dieser währte bis zum 30.3.2007 einschließlich.

II. Beobachtungsort Gerichtsgebäude Willy-Lohmann-Straße zu Dessau und der darin befindliche Gerichtssaal

  • Als ich am Morgen des 27.3.2007 gegen 8.30 Uhr vom nahegelegenen Dessauer Bahnhof kommend ans vergleichsweise moderne Gerichtsgebäude herankam – ich hatte nicht wie die anderen Beobachterinnen/Beobachter schon die Nacht zuvor in Dessau zugebracht –, fiel mir die massive polizeiliche Bewachung auf. Die Polizeibeamten waren großräumig herangezogen worden. Sowohl auf der Vorder- wie der Rückseite des Gebäudes standen mehrere polizeiliche Mannfrauschaftswagen. Später entdeckte ich im Vorraum des Gerichtssaals, dessen Ausgang gleichfalls polizeilich geschützt wurde – wie auch die Aufgänge zu den weiteren Stockwerken –, wenigstens einen Polizeihund. Während all der drei von mir verfolgten Prozesstage war immer erneut heftiges, wie ich vermute Polizeihundegeheul zu hören.
  • Zusätzlich zur massiven polizeilichen Bewachung, die sich ohne Verhältnis zu irgendeiner erkenntlichen oder vorweg ausmachbaren Gefahr darstellte – Ausdruck antizipatorischer Gewaltphantasien des Gerichts und der sonstigen zuständigen Behörden (?!) –, standen am Eingang der Vorder- und Straßenseite des Gebäudes, zu dem man einige Stufen hochgeht, eine gedrängte, aber nicht geballte Gruppe von – pauschal geschätzt – ca. 40 Personen. Wie ich später feststellte, war die Mehrheit der im Gerichtssaal untergekommenen Personen schon zuvor eingelassen worden. Die vor der Eingangstür wartende Gruppe setzte sich vor allem aus Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die mit dem in jedem Fall polizeischuldhaft verbrannt/erstickten Oury Jalloh schon aufgrund ihres ihm gleichen, in der BRD gegebenen minderen, nämlich nicht deutsch-staatsbürgerlichen Status sympathisierte. Ein Doktorand von mir aus Kamerun, der über von der EU und der BRD besonders geförderte Flüchtlingslager in der Ukraine und Libyen arbeitet, befand sich darunter. Ich selbst, der ich mich vordrängte, kam zwar in das Gebäude hinein. Nach einiger Wartezeit konnte ich jedoch die innere Eingangs- und Durchgangskontrollstelle, mit technischem Gerät und drei Beamten, einer Beamtin ausgestattet, nicht mehr passieren. Mir wurde bedeutet, der Gerichtssaal sei voll. Niemand werde mehr durchgelassen. Auf mein nachhaltig heftiges Insistieren hin wurde mir bedeutet, ich würde sobald in den Gerichtssaal gehen können, wiebald ein Platz frei werde. Ich solle mich deswegen an die Seite setzen. Das war dann um 11 Uhr während der ersten Gerichtspause der Fall.
  • Das Landgericht hat für dieses Verfahren tatsächlich den größten Saal im Parterre bereit gestellt. Der funktional eingerichtete Saal mit wenig erhöhtem Gericht und der Anklage, dem ortsansässigen Oberstaatsanwalt ebenerdig an der Seite der Anwältin und der zwei Anwälte der Nebelklägerin/des Nebenklägers Diallo, der Eltern von Oury Jalloh, war mit ca. 60 Zuhörerinnen voll besetzt. Dennoch erscheint das Argument vorgeschoben: der gegebene Raum habe sach-, also raumzwangsartig verhindert, die ca. 20 bis 30 Personen noch hereinzulassen, denen nicht mein ´Warteglück´ beschieden war. Zum einen wäre es möglich gewesen, den benutzten Gerichtssaal so zu arrangieren, dass zusätzliche Stuhlreihen mit einiger Mühe hätten plaziert werden können, ohne das Verfahren und seine institutionelle „Würde“ zu gefährden. Dann hätten mutmaßlich alle, die vergebens und überaus geduldig harrten, hereingelassen werden können. Zum anderen hätten das Gericht und sein Vorsitzender Richter, hätten sie denn über das nötige Verständnis samt der dazu erforderlichen Phantasie verfügt (oder holten sie die nötige Vorstellungskraft angestrengt nach), gerade in einem Verfahren wie diesem äußerstes Interesse daran haben müssen bzw. müssten es hinfort haben, gerade alle besorgten und mit gutem Grund engagierten Ausländerinnen und Ausländer, in diesem Fall vor allem Afrikanerinnen, pauschal gesprochen, uneingeschränkt beobachtend zuzulassen. Nur dann könnte unmittelbar gegenwärtig belegt werden, dass wenigstens dieses Verfahren der Rechtsprechung nicht die Diskriminierung ausländischer Bürgerinnen und Bürger mit „rechtstaatlichen Mitteln“ fortsetzte. Man führe sich immer erneut vors Auge von Gefühl und Verstand: ein Mensch, der zufällig, nicht zufällig aus Sierra Leone stammt und den Namen Oury Jalloh trägt, verbrennt gefesselt im Polizeigewahrsam!

III. Drei Verhandlungstage lang Beobachtungen im Gerichtssaal.

27.3.2007

  • Die Befragung des ersten Angeklagten, Herrn Schubert, bekomme ich, erst um 11 Uhr in den Saal gelassen nur sehr verkürzt mit. Meinen Eindruck, dass sich keine neuen Aspekte ergeben hätten, wird aus der Mitbeobachtergruppe bestätigt.
  • Ab ca. 14 Uhr befragt vor allem Richter Steinhoff einen Mann aus Sierra Leone, der mit Oury Jalloh in Dessau in einer Wohnung, nicht einem Zimmer zusammengelebt hat. Richter Steinhoff hat sich offenbar ein Bild von Oury Jalloh zurechtgelegt oder benutzt jedenfalls ein solches Bild als motivierenden Hintergrund seiner Fragen. Das wird aus der Sequenz seiner insistierenden Fragen erkenntlich. Oury Jalloh, der in Dessau von Gutscheinen zu leben hatte, das gibt sein Mitbewohner an – die grund- und menschenrechtlich gewertet würdewidrige Schlechtscheine darstellen –, soll Richter Steinhoff gemäß als jemand erkannt werden, der unzuverlässig, wahrscheinlich alkohol- und von anderen Drogen abhängig, schon früh gezeigt hat, dass er mit seinem Leben in Dessau nicht zurecht kommt. Sein Mitbewohner gibt jedoch den fast rhetorisch gestellten Fragen keine passenden Antworten. Er schweigt sich eher aus. Oder er versteht die Fragen nicht, da es sich mit seinen Deutschkenntnissen so verhalten könnte wie möglicherweise denen Oury Jallohs. Worin die Sparsamkeit der Antworten des Zeugen jedoch immer gelegen haben mag, die Art, wie der Richter cholerisch aus der Rolle fiel – oder schlimmer: erst in eine solche fand – , kann nur angemessen beobachtet werden, wenn man den Frage-Ton, die Fragenfolge, die konstruktivistisch vorgegebenen Frageninhalte beachtet. Der Befragte sollte ohne jedes richterliche Verständnis dafür, dass dem Befragten die deutsche „Gerichtskultur“ kaum verständlich sein konnte, geradezu in Richtung erwarteter Antworten „genotzüchtigt“ werden. Suggestive Fragen sind auch ansonsten oft an der Reihe, allerdings nicht nur vom Richter gestellt. O-Ton Steinhoff: „Stellen Sie sich vor Augen!“ (und das wohlgemerkt bei einem Mann, der des Deutschen möglicherweise nur gebrochen kundig ist. Das ungleiche Sprachniveau fällt auch gegenüber originär bundesdeutschen Zeuginnen/Zeugen auf). Wäre ich an der Stelle des Befragten gewesen, ich hätte mir Ton, Inhalt und sture Fragenfolge des nur noch sich selbst erkennenden Richters nicht gefallen lassen. Das war meines Erachtens der Tiefpunkt der ersten drei Tage. Er entdeckte strukturelle Vorurteile und Unfähigkeiten im Fragehabitus des Richters. Ihm will ich ansonsten nicht zu nahe treten, da ich ihn nur aus diesen drei Tagen kenne.
  • Von ca. 15.30 bis 18.00 Uhr wurden hintereinander die beiden Frauen befragt, die sich am Morgen des 7.1.2005 von Oury Jalloh belästigt fühlten und schließlich die Polizei auf den Plan riefen. Noch mehr als zuvor fällt bei diesen beiden Zeuginnen auf, wie skandalös es war und ist, dass das Verfahren erst ca. 2 ¼ Jahre nach dem Verbrennungsfall im Polizeigewahrsam stattfindet. Darum sind Erinnerungslücken ein prozessdurchgehender Refrain. Darum halten Richter, Staatsanwalt und die anwaltlichen Vertreter der Nebenklage vor allem den Zeuginnen und Zeugen immer erneut aktenkundig frühere Aussagen aus ihren polizeilichen Vernehmungen vor (auch diese haben übrigens erst ca. 3 Wochen nach der ´institutionellen Tat´ Ende Januar 2005 stattgefunden, die personell nur indirekt durch mehrere Personen repräsentiert wurde). Bei den Antworten beider Zeuginnen fällt auf, dass der Grad und die Intensität jeder Form von möglicher Belästigung durch Oury Jalloh am Morgen des 7. Januar 2005 verglichen mit seiner Festnahme und gewahrsamen (!) Fixierung geradezu lächerlich gering gewesen zu sein scheint. Hinsichtlich der Fragen der Verfahrensbeteiligten erstaunt, dass von keiner/m der Fragesteller versucht wird, herauszufinden, welche Motive die beiden Frauen zu ihrem Polizeiruf veranlasst haben könnten, Fragen, die ähnlich an alle später Involvierten zu richten gewesen wären.

28.3.2007

  • Kurz nach 9 Uhr Zeuge Meyer, Polizeibeamter, Kontrolleur des Gewahrsamtrakts. Die Kontrolle, einzige von mir beobachtete Auffälligkeit der ansonsten nicht weiter erhellenden Befragung, die Kontrolle des Gewahrsamtrakts sei seit dem 7.1.2005 „komplizierter geworden“. Frage: wie geschah sie zuvor; offenkundig unzureichend – vgl. die Fragen am Eingang dieses Berichts. Nach 11.20 Uhr der 2. vernommene Polizeibeamte – Herr Semmler – an diesem Morgen: er kann sich an die Flüssigkeit, den Flecken aus Flüssigkeit nicht erinnern, der in Zelle 5 festgestellt worden ist. Auffällig erneut: nach dem 5.1.2005 ist der Gewahrsamtrakt verlegt worden. Die Regeln, die für ihn gelten sind erheblich verändert worden. Das gilt vor allem für die Sicherheitsvorkehrungen. Die Kontrollen dessen, was in den Zellen geschehe, seien häufiger, die Schulung der mit der Kontrolle Befassten strikter (seltsam, dass niemand der Fragekompetenten erkundet, welche Regeln heute, welche seinerzeit gelten bzw. gegolten haben). Um 16 Uhr wird die Putzfrau der Zellen, Frau Gall, einvernommen. Auffällig allenfalls wie wenig den Befragenden auffällt bzw. wie unvermeidlich vage und routineförmig pauschal die Erinnerungen nicht nur dieser für die Sauberkeit der Zellen vorab zuständigen Frau ausfallen.

29.3.2007

  • Ca.9.30 Uhr. Frau Freund, die in der Polizeiverwaltung tätig ist, wird vernommen. Der schon erwähnte Refrain, sozusagen der rote Faden, der sich des 2 ¼ Jahre später durch das Verfahren zieht, darauf angelegt, „Wahrheit“ – zeitlich in einzelnen Handlungen und Beobachtungen fein ziseliert – herauszufinden. Richter: „Versuchen sie sich zu erinnern, ob Sie sich heute erinnern können“, welche Nummer des Telephons der angerannt gekommene Herr Schubert seinerzeit, also am 7.1.2005 um 12 Uhr und einige Minuten gewählt haben könnte. Der Richter hält vor: „Nach Ihrer polizeilichen Aussage kam noch...“ Die Zeugin verharrt stumm. Bis in die Sprache nicht allein des Richters hinein, sondern der Wahrheitsfindungsfiktion des 2. Jahre danach präsent gestellten Rekonstruktionsverfahrens gemäß, an die sich alle Beteiligten halten müssen, werden erinnernde Re-Konstruktionen und ihre Rekonstrukteure permanent überfordert. Diesen Umstand belegen zusätzlich deswegen unsinnige Fragen: ob die Befragte das seinerzeitige Geschehen um 12.27 oder 12.37 zeitorten könne. Oberstaatsanwalt Preissner: „Versuchen Sie sich konkret zu erinnern, haben Sie Herrn Schubert im Spiegel gesehen?“. „Können Sie sagen, wie Herr Schubert gekleidet war?“ Anwalt der Verteidigung: War Schuberts Stimme „belegt, kratzig, als er telephonierte?“ (wohlbemerkt am 7.1.2005 um 12.05 Uhr herum zu erinnern am 29.3.2007). „Wie oft ist Herr Schubert in diesem Zusammenhang gekommen?“
  • Der 2. Zeuge des Tages ab ca. 11.40 Uhr, Herr Rothe, Polizeibeamter, früher bei der Feuerwehr tätig und darum eine Art Brand(schutz)sachverständiger wird kurz nach 12 von Schubert, der von unten kam, noch einmal in den Gewahrsamtrakt geschickt. „Geh noch mal runter, da ist was passiert.“ Zwei Mal verneint er übrigens, vorhaltend befragt, Aussagen, die er bei der ersten Vernehmung am 25.1.2005 laut Stendaler Polizeivernehmung gemacht haben soll. Es habe zur Zeit, da er in den Trakt hinunterging und sich noch im Vorraum der Zellen aufgehalten habe, keine Chance mehr bestanden, in die Zellen zu gehen. Im Rauch habe er nur einen handtellergroßen rotglühenden Fleck gesehen. Erst um 12.20 Uhr habe er erfahren, dass Oury Jalloh „angekettet war“ (und zwar von Herrn März). Der Oberstaatsanwalt versucht vergeblich vom Zeugen herauszufinden, wie er sich den Widerspruch seiner Aussagen vom 25.1.2005 im Rahmen der Stendaler Polizeivernehmung und seinen heutigen Aussagen erkläre (der möglicherweise Salto Springende soll beim Springen seinen eigenen Sprung mit dem Stand vorweg gleichzeitig erklären). Eventuell essenziell in Sachen Anklage, in jedem Fall institutionell signifikant für die Sorgfalt der Polizei und ihre immer bestehende Ordnung im Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern: Im Zellentraktteil selbst befand sich kein Feuerlöscher. Der Fall gefesselter Menschen, damit sie sich im Fall eines Brandes selbst helfen könnten, war nicht vorgesehen. Die ab 14.55 Uhr befragte nächste Zeugin, Verwaltungsbeamtin im polizeilichen Finanzwesen brachte über das nicht nur von ihr explizit und impliziert wiederholte: „weiß nicht (mehr)“ keine zusätzlichen Informationen und Aspekte ein – jedenfalls, soweit man das von ihr Berichtete isoliert betrachtet.

Ende meiner Beobachtungszeit.

IV. Einige erste Verallgemeinerungen in geringer Abstraktionshöhe abständig vom Verhalten und den Äußerungen der Verfahrensbeteiligten

  • Gerade wenn man die erste Phase des Verfahrens gegen Schubert/März im Todesfall Oury Jalloh am 7.1.2005 nicht sogleich in seinen angemessenen Kontext stellt, sondern induktiv nur von den drei ersten oder zusammen mit den von mir erhaltenen Berichten den ersten 4 Prozesstagen beurteilt, drängen sich folgende empirischen Verallgemeinerungen auf:
  • alle irgendwie an der Affäre mit tödlichen Ausgang, an der Gewahrsamnahme von Oury Jalloh vom Morgen des 7.1.2005 bis zum Eintreffen der Feuerwehr um ca. 12.30 Uhr Beteiligten haben bestenfalls unbedacht, schlimmerenfalls ohne die gebotene Wahrnehmung eines anderen Menschen gehandelt;
  • das, was insbesondere im Umkreis der Polizei seit der Inhaftierung Oury Jallohs geschehen oder vor allem nicht geschehen ist, kann günstigstenfalls als institutionalisierte Achtlosigkeit, Schlamperei und als ein bedrückender Mangel an Vorstellung für den polizeiunterworfenen Anderen bezeichnet werden. Hier beginnt die „Banalität des Bösen“;
  • alle vielleicht noch entschuldbare Schlamperei im einzelnen übertrifft zum einen der Mangel an Brandschutz; zum anderen der Mangel an Sorgfalt im Umgang mit polizeilich ohnmächtig gemachten Personen; zum dritten der Mangel an nicht bürokratisch und technologisch arbeitsteiliger Kümmernis um eben solche total abhängig gemachte Personen;
  • der während der ersten vier Prozesstage immer erneut genährte Verdacht hat sich verstärkt: über unentschuldbaren institutionellen und personellen Mängel hinaus dürfte die institutionalisierte, mutmaßlich vom gesellschaftlichen Kontext bestärkte Achtlosigkeit, wenn nicht das Missachten, gar die Herunterachtung von Ausländern eine letztlich tödliche Rolle spielen, insbesondere wenn ihre Hautfarbe nicht ins Bild passt. Diese Missachtung verbinden die Polizei als schlampiger Ordnung – nicht akzeptabel bei einer Institution, die angeblich legitime Gewalt ausübt – gegenüber ihr ausgesetzten Menschen mit dem Verhalten (Habitus) ihrer Beschäftigten und umgekehrt;
  • dafür, dass dem so ist, hat nicht zuletzt der hier ansonsten nicht in seiner Leistung zu würdigende Vorsitzende Richter gesorgt. Er hat nicht nur unnötig und ohne Zeit zu sparen, die AnwältInnen der Nebenklage verschiedentlich gehemmt und unterbrochen. Er hat vor allem den einstigen Wohnungsnachbarn von Oury Jalloh in einer Weise mit einseitigen Fragen gedrängt und geradezu zu erpressen gesucht, dass sein Mangel an Vorstellungskraft für den (auch kulturell) anderen ebenso offenkundig wurde, wie sein Vor-Urteil, was Oury Jalloh und sein Verhalten angeht;
  • wie manche anderen Strafverfahren auch leidet dieses insbesondere darunter, dass es, wollte man tatsächlich die allemal schwierige Wahrheit herausfinden, fahrlässig viel zu spät angesetzt worden ist. Schon am Beginn wurden die meisten Zeugen zu spät vernommen. Die Art der Zeugenvernehmung über 2 Jahre nach dem Tod Oury Jallohs, den man fast einen „strukturellen Mord“ nennen könnte, lebte von einer Reihe oben berührter, hier nicht mehr zu wiederholender Fiktionen. Sie ließen den Prozess entgegen dem Ernst seines Gegenstands, dem Tod eines Menschen, nicht selten zu einem Theater dritter Klasse geraten;
  • der Umgang mit dem „Volk“ einschließlich der ausländischen Bürgerinnen und Bürger zu monieren, die sich im übrigen erstaunlich selbstdiszipliniert verhielten. Nicht nur wurde ein Teil desselben ohne Not ausgeschlossen. Vielmehr behandelte der Vorsitzende Richter die im Gerichtssaal Anwesenden beim geringsten Laut in einer autoritären Weise, die sich der Beobachter, Teil derselben, nur um willen seiner Beobachtung gefallen ließ.

Anhang

Einige verdichtete Äußerungen

(1)

Angekettet verbrannt

Oury Jalloh

Am 7.1.2005 um 12.05

Im sogenannten Gewahrsamstrakt seiner Zelle 5 zu Dessau.

Um 9 Uhr morgen,

der Feststellung seiner ´Identität´ halber und angeblich um seiner Ausnüchterung willen

auf einer fast unbrennbaren Matratze

schutzlos gegen Feuer,

schutzlos gegen systematisch achtlose Menschen fixiert,

zu Tode gebracht vorurteilspolizeilich

ein Spiegel bundesdeutsch vergangener Gegenwart.

(2)

Was für ein Frühlingstag

Knospen überall, Vogelzwitschern

Lichtvoll sonnenseits, lichtvoll im Innern des polizeilich-hündisch bewachten Gerichtssaals.

ZeugInnen werden vernommen. Sie wissen

Fast nichts mehr.

Dass und wie am 7. Januar vor über zwei Jahren

Oury Jalloh jämmerlich möderisch um High Noon verbrannte.

Polizeikettig fixiert, angeblich um auszunüchtern

Über drei Stunden voll Unruhe und Jammern und Schreien –

Niemand jedoch zu hören. Polizeiohren taub technisch verstärktem Lärm zum Trotz. Wer hörte schon Schwarze?!

Was für ein Verfahren

Mehr als zwei Jahre danach

Lüge der Wahrheitssuche deutschen Gerichts

Die Kunst im Zeit- und Erinnerungsloch zu finden. Was man zuvor

Hineingesteckt.

Das Urteil, wie immer es fällt, wird falsch

Strukturen, Funktionen deutscher Vorurteile, der Personen, die sie körpern –

Sie bleiben.

Und Jallohs Mutter

Am ersten Tag zugegen,

Weint bitterlich, heult das Unsägliche –

Sie verbirgt ihr –, sie verbirgt unser Gesicht.

(3)

Befragung als Antwort

Er teilte eine Wohnung

Mit Oury Jalloh –

Wie lebte er, fühlte er, trank und tablettierte er sich,

war er apathisch oder übernervös

was für ein Mensch war er ganz innen

so dass wir uns draußen beruhigen können

Hinterher. Wenn mit ihm alles vorbei ist.

Also hetzte fragend der Richter

Den armen Mann aus Sierra Leone von dorten, woher Oury Jalloh kam.

Und kam sich schrecklich aufgeklärt vor, Bescheid wissend dieser Richter

In einem aufgeklärten Land, innovationentollvoll.

Ach, darum durfte Oury Jalloh,

den gab´s einmal hört her und staunet,

ach, darum durfte ihm kein Geld anvertraut werden

von eigener Arbeit nicht zu reden.

Ach, darum musste er – unaufgeklärt gab er sich nicht als das aus, was er war –

Ein deutscher Mitesser,

bis er´s denn wusste, fixiert werden.

Streng ein aufgeklärtes Land. Für alle, die es noch nicht sind,

gilt stramm deutsch und europäisch unioniert total:

integriert euch oder haut ab. Mögt ihr immerhin humanitär noch eine Weile Lager finden.

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Wolf-Dieter Narr, Jg. 1937, ist Politikwissenschaftler, emeritierter Hochschullehrer der FU Berlin und Mitbegründer sowie langjähriger Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

 

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