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Verfassung und Grundrechte
 

Auf dem Weg zur präventiven Justiz

Oder die politisch „verordnete“ Beschränkung der Grundrechte in der Rechtssprechung in einer neoliberalen Gesellschaft

Ansichten zu einem öffentlichen Prozess, welcher von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde.

Von Esther Hesse, Peter Hesse und Roland Spitzer

16.02.2005

Bislang galt es als gesichert, dass ein Mensch so lange als unschuldig angesehen wurde, bis man ihm seine Schuld nachwies und er für das ihm nachgewiesene Vergehen rechtskräftig verurteilt wurde. Erhielt er eine Freiheitsstrafe, so konnte er davon ausgehen, dass er nach Verbüßung der Haftstrafe auch wieder in die Freiheit entlassen wurde. Es gab nur eine Ausnahme, und die gründete auf einem Gesetz aus dem Jahre 1933, welches von den Nationalsozialisten in die Rechtssprechung eingebracht wurde. Mit diesem Gesetz war es möglich, für als besonders gefährlich geltende Straftäter im Zuge des eigentlichen Strafverfahrens die Überprüfung einer sich an das eigentliche Strafmaß anschließenden Sicherheitsverwahrung anzuordnen. Wurde dies nicht im Hauptverfahren angeordnet, so musste der Verurteilte nach Verbüßung seiner Haftstrafe entlassen werden.

Diese Rechtspraxis wurde von der DDR abgelehnt und der entsprechende Paragraph im Jahre 1949 gestrichen. In der BRD wurde die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung im § 66 des StGB beibehalten, jedoch in der Regel nicht von den Richtern angewandt. Nun entschied das Bundesverfassungsgericht im Februar 2004, dass unter anderem das Bayerische Landgesetz über die „Unterbringung gefährlicher Rückfalltäter“ verfassungswidrig ist, da den Bundesländern in diesem Bereich die Gesetzgebungsvollmacht fehlt. Die Sicherungsverwahrung, wurde jedoch als prinzipiell mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen. Das Bundesverfassungsgericht legte nun dem Gesetzgeber auf, bis zum 30. September 2004 eine Bundeseinheitliche Gesetzgebung zu schaffen. Hier hätten sicherlich mehrere Wege eingeschlagen werden können, der menschlichste wäre die Abschaffung des Paragraphen 66 StGB, doch das wäre wohl mit den Intentionen der Gesetzgeber nicht vereinbar gewesen. So erklärte das Bundesjustizministerium in einer Presseerklärung vom 09. Juli 2004:

„Die besondere zeitliche Dimension dieses Gesetzgebungsverfahrens ergibt sich daraus, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur bis zum 30. September Zeit bleibt, über die bislang nach Landesgesetzen Untergebrachten zu entscheiden. Ohne gültiges Bundesgesetz hätten sie zu diesem Zeitpunkt freigelassen werden müssen, obwohl Gerichte sie bislang als hochgefährlich eingestuft haben. „Diese Gefahr ist nun beseitigt, denn die Bundesregierung hat rasch gehandelt – und Bundestag und Bundesrat sind ihrer Verantwortung durch gründliche und zügige Behandlung des Gesetzes ebenfalls gerecht geworden“, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.“

Dieser Denkweise folgend, wurde das von den Nationalsozialisten eingebrachte Gesetz noch verschärft und der §66 b ergänzend eingebracht. Auf diesen Umstand soll im abschließenden Teil des Artikels nochmals ausführlich eingegangen werden.

Die neue Partei ASG – Die Wahlalternative hat in der Programmdiskussion alles bedacht und in der letzten Phase der Diskussion sogar über die Hühner in Käfighaltung diskutiert. Jedoch das Recht, die Rechtspolitik wurde vergessen. Dabei läuft schon einiges im Stillen ab, wie aus einem Prozess zur Sicherungsverwahrung am 03. und 04. Februar 2005 vor dem Geraer Landgericht zu erfahren war.

Doch nun zum Prozessverlauf:

Der Prozess vor dem Landgericht Gera am 03. und 04. Februar 2005

Am 03. und 04. Februar 2005 wurde vor dem Landgericht Gera im großen Schwurgerichtssaal ein Prozess zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherheitsverwahrung gemäß § 66b StGB verhandelt. Das Gericht bestand aus dem Gerichtspräsidenten, zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen, die zu Verhandlungsbeginn vereidigt wurden.

Darüber hinaus wurden zwei, durch das Gericht bestellte forensisch - psychiatrische Sachverständige zur Verhandlung geladen. Seitens der Verteidigung wurde Esther Hesse, Diplom Psychologin, zu Rate gezogen.

Der Prozess wurde öffentlich geführt und begann mit der Verlesung des Auszuges aus dem Strafregister des Angeklagten Sch. sowie der Verlesung der Strafakte des Angeklagten. Die Verlesung wurde durch den Präsidenten des Landgerichtes durchgeführt, wobei er dies in kaum vernehmbarer Lautstärke tat, so dass die anwesende Öffentlichkeit de facto von den für das Verständnis des Prozessverlaufes notwendigen Informationen abgeschnitten wurde.

Zur Vorgeschichte

Acht Tage vor seiner, ohne dieses Gesetz unabwendbaren Freilassung im August 2004, wurde Sch. mitgeteilt, dass es ein neues Gesetz gibt, nach dem er nicht automatisch entlassen werden muss, sondern eine Prüfung auf Sicherheitsverwahrung erfolgen kann. Nach Ablauf seiner regulären Haftstrafe wurde Sch. in den Sicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gera verlegt.

Sch. wurden zahlreiche Disziplinarverstöße, begangen während seiner Inhaftierung in den JVAen Suhl-Goldlauter und Tonna, vorgeworfen.

Unter anderem habe man bei Zellenkontrollen mehrere Liter selbstgebrannten Alkohols, diverse Mengen Rauschgift, sowie Schlagwaffen und zu Waffen umgebaute Alltagsgegenstände, wie beispielsweise ein aus einer Rasierklinge hergestelltes Messer gefunden. Urinkontrollen zur Feststellung eines möglichen Drogenkonsums verweigerte Sch. mehrfach.

Darüber hinaus habe er sich der Fesselung an ein Drahtbett widersetzt, die acht beteiligten Vollzugsbeamten dabei mit heftigen Körperbewegungen angegriffen und ihnen das Alkoholtestgerät aus der Hand geschlagen.

Sch. gibt im Verlaufe der Verhandlung alles bereitwillig zu. Er räumte ebenfalls ein, dass die Veranstaltungen des Gefängnispfarrers routinemäßig für den Rauschgifthandel genutzt würden, wo man nähme, was gerade angeboten werde, und wenn möglich, irgendwann teurer weiterverkaufe. Das wird Ihm der Präsident in der Urteilsbegründung später als neuartige Straftaten anrechnen, Besitz von und Dealen mit Drogen.

Die Vernehmung der Zeugen aus dem Personal der Justizvollzugsanstalten

Nach Verlesung der vorangegangenen Straftaten und Urteile beginnt die Vernehmung der Zeugen mit den zwei mittleren Führungskräften W. und H. aus zwei der von Sch. durchlaufenen JVAen. Beide Beamten können sich kaum erinnern, zuviel Arbeit, hunderte zu betreuende Häftlinge. Sie lassen sich die Vollzugsakten geben und lesen ab, welche den Häftling betreffenden Maßnahmen durch die Zeugen, oder andere Volzugskräfte vermerkt wurden. Oft lässt sich nicht mehr feststellen, aus welchem Grunde, aus welcher besonderen Situation heraus, eine Eintragung erfolgte. Teilweise wurde zwar eine Eintragung über den Beginn einer Maßnahme gefunden, jedoch waren Aussagen über deren Abschluss und eventuellen Erfolg an Hand der Unterlagen nicht mehr nachzuvollziehen.

Im Verlaufe der Zeugenvernehmung treten nun auch Zweifel darüber auf, wie gefährlich die gefundenen Waffen wirklich waren. So musste bei einem Messer, welches bei Sch. sichergestellt wurde, eingeräumt werden, dass diese Art von Messern ursprünglich als Besteckbestandteil bei der Versorgung der Häftlinge ausgegeben und dieses wohl durch Sch. mitgenommen und aufgehoben wurde. Gleichzeitig wurde darauf verwiesen, dass dies künftig nicht mehr möglich sei, da die Häftlinge nun Messer aus flexiblem Material erhielten.

Insgesamt ergibt die Vernehmung der Zeugen W. und H. – sie äußern sich auch persönlich dahingehend - dass das Verhalten des Angeklagten Sch. in den betreffenden Haftanstalten nicht ungewöhnlich für Sträflinge sei: Es ist ein Stück Alltagswelt in Gefängnissen ans Tageslicht gezogen worden.

Angehörige und Bekannte als Zeugen

Es folgt die Vernehmung der Angehörigen und Bekannten. Die Mutter macht von ihrem Recht der Aussageverweigerung als Angehörige des Angeklagten Gebrauch. Daraufhin wird der Stiefvater vernommen. Durch geschicktes Nachfragen gelingt es dem Präsidenten, dem Stiefvater das eine oder andere mehr zu entlocken, als dieser vielleicht preisgeben mochte. Er redet viel, sehr viel. Aber kaum jemand scheint ihm die vorgebliche Idylle, in der sie alle gelebt haben sollen, zu glauben. Zu hause sei alles in Ordnung gewesen. Schwierigkeiten habe es nur „draußen“ gegeben, in der Schule z.B. Dass der Angeklagte in Gartenhäuser einbrach und Mopeds entwendete, davon habe er nicht gewußt. Auf die richterliche Frage, ob Sch. dem politisch rechten Milieu angehöre, äußert sich der Stiefvater dahingehend, dass ihm dazu nichts bekannt sei, lediglich „die Schnürstiefel“ vor der Tür, die seien ihm schon aufgefallen. Auf die Frage, was Sch. denn bewegt habe, im Alter von 16 Jahren selbst den Antrag zur Aufnahme in ein Heim zu stellen, konnte der Stiefvater keine Antwort geben.

Die mit Sch. gemeinsam aufgewachsene Tochter des Stiefvaters gab nur sehr knappe Auskünfte auf die ihr gestellten Fragen. Es sei alles zu lange her, sie sei damals noch zu jung gewesen und nachdem sie mit achtzehn von zu Hause weg gegangen sei, habe ohnehin kaum noch Kontakt zu Sch. stattgefunden.

Zum Abschluss des ersten Verhandlungstages wird die ehemalige, heute 24jährige Freundin S. vernommen. Mit fünfzehn habe sie ihn, den damals in Freiheit lebenden Sch. kennengelernt, und einige Monate mit ihm zusammengelebt. Auf die Frage, „welcher Art“ denn Ihr Verhältnis zu Sch. gewesen sei, antwortete sie „Na, intim“. WelcheArt von Intimität das denn gewesen sei, faßt der beisitzende Richter nach. Sie antwortet achselzuckend: „Na, ja, intim eben“.

Die junge Frau habe Jahre später, als Sch. schon im Gefängnis saß, wieder Kontakt zu ihm aufgenommen, regelmäßig geschrieben und ihn besucht. Obwohl sie gegenwärtig noch mit einem anderen Mann zusammen lebe, von dem sie ein Kind habe, würde sie wieder zu Sch. ziehen, würde sie im Falle einer Freilassung wohl wieder mit Sch. leben wollen. wenn es denn möglich wäre. Der sachverständige, forensische Gutachter B. bekundet Interesse an der Art von tiefer innerer Beziehung, die in seinen Augen offenbar noch immer zwischen dem Angeklagten und der Zeugin bestehen müsse. Zumal sie, wie es scheint, seit vielen Jahren auf den in Haft sitzenden Angeklagten warte. Sie vermochte darauf keine Antwort zu geben.

Die Ausführungen der vom Gericht bestellten Gutachter

Die beiden forensischen Psychiater, Dr. A und Dr. B. hatten neben der Staatsanwaltschaft Platz genommen.

Seinen Ausführungen stellt Dr. A. Auszüge aus dem schriftlich eingereichten Gutachten zur Gefährlichkeitsprognose des Angeklagten voran. In seiner ungefähr einstündigen Rede geht Dr. A auf die Art und Genese der von ihm diagnostizierten Persönlichkeitsstörung und zur Substanzabhängigkeit des Angeklagten ein, und nimmt vorsichtige prognostische Schätzungen bzgl. seines Gefährlichkeitspotentials vor. Er wägt sorgsam und mit Bedacht ab. In dem vorab verfassten Gutachten gelangt er zu keiner eindeutigen Schlussfolgerung. Sowohl in der Sicherheitsverwahrung als auch in einer betreuten Unterbringung sehe er eine Chance für den Angeklagten, sein bisheriges Verhaltensmuster zu durchbrechen.

Im Anschluss an seine Rede wird der Sachverständige von Richterseite, Staatsanwaltschaft und Verteidigerseite befragt. Die Fragen des Richters beziehen sich in erster Linie auf die Gefährlichkeitsprognose und die Rolle der Drogenabhängigkeit in diesem Zusammenhang. Die Inhalte der Fragen des Präsidenten konnten größtenteils nur aus den Antworten des Sachverständigen Dr. A. erschlossen werden, da sie mit fast tonloser Stimme vorgetragen wurde. Die Art der Entstehung des psychiatrischen Urteils, worauf dieses letztendlich beruhe, wird nicht hinterfragt.

Gutachter Dr. B. hält einen kürzeren, aber sehr wortgewaltigen Vortrag. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gutachter Dr. B. seine Ausführungen über den gegebenen Rahmen des Sachverständigen hinaus auch als Plädoyer im Sinne der Staatsanwaltschaft verstand. Dies ließ sich sowohl aus der Wortwahl und dem rhetorisch versierten Auftritt des Dr. B., wie auch aus dem Frage-Antwort-Muster zwischen Staatsanwältin und Sachverständigem schließen.

Dr. B. empfahl konsequent die Anwendung der Sicherheitsverwahrung für den Angeklagten Sch. Eine Möglichkeit zur Resozialisierung und zur therapeutischen Änderung von Verhaltensmustern des Herrn Sch. sah er nicht. Es handele sich beim Angeklagten um einen „Hangtäter“, mit weiteren Straftaten sei fest zu rechnen. Eine Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert vermochte er beim Angeklagten nicht zu erkennen, deskriptiv könne ihm die ICD-Diagnose F 60.0 „Dissoziale Persönlichkeit“ zugeschrieben werden.

Wie die Geschlossenheit seines Vortragsstiles bereits vorausahnen lässt, werden erwartungsgemäß nur wenige Fragen an Dr. B. gerichtet. Der Dialog zwischen Präsident und Sachverständigem lässt auch hier wieder eine vorausgehende Einvernehmlichkeit zwischen Staatsanwaltschaft und Gutachter vermuten, zumal Dr. B’s Antworten wiederum darauf hinauslaufen, dass im Endeffekt dem Angeklagten nur eines bescheinigt werden kann, und zwar die Tatsache, dass für ihn keine positive Prognose gestellt werden kann und ihm nicht zu helfen sei. Er somit nicht in der Lage sein wird, sich in Freiheit an die Normen der Gesellschaft anzupassen.

Die Plädoyers der Staatsanwaltschaft...

Die Staatsanwältin wirkt unorganisiert. Sie beginnt ihr Plädoyer und ermahnt alsbald einen der Zuschauer, der während ihres Vortrages die Lippen bewegt, mit den Worten: „Seien Sie still, das stört!“ Sie hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Male in ihrer Funktion als Staatsanwältin in den Prozess eingebracht. Teilweise hatte sie mit geschlossenen Augen dagesessen.

Ihr Plädoyer ist eine extrem wortkarge Zusammenfassung dessen, was die Gutachter geschrieben und vorgetragen hatten. Der durch die Staatsanwältin gestellte Antrag ist augenscheinlich für den Richter rechtlich zunächst nicht verwertbar, zumal er im Anschluss an ihr Plädoyer erklärte, welchen Inhalt der Antrag der Staatsanwaltschaft haben muß, damit die Sicherung der Fortsetzung der Inhaftierung von Sch. gemäß § 66b StGB juristisch gewährleistet sei. Der Gerichtspräsident kam ihr praktisch mit der richtigen Formulierung korrigierend zur Hilfe. Inhalt des Antrags der Staatsanwaltschaft: Sch. soll zunächst auf unbestimmte Zeit inhaftiert bleiben.

...und der Verteidigung

Der Verteidiger hat, auch dadurch, daß er eine eigene Psychologin für die Verteidigung seines Mandanten vortragen ließ, die Aufmerksamkeit der Prozessbeteiligten auf den rein psychiatrischen Aspekt der Gefährlichkeitsprognose gelenkt.

Erst im Verlaufe des Plädoyers kommt er auf den eigentlichen (juristischen) Kern seiner Argumentation.

Um die nachträgliche Sicherheitsverwahrung anordnen zu können, müsse im Haftverlauf ein neuartiges, zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht erwartbares Gefährlichkeitspotential des Straftäters erkennbar geworden sein. Da jedoch in Urteilbegründung der damaligen Verurteilung im Jahre 1998???bereits durch den Sachverständigen Dr. S. auf die „soziopathische“ Persönlichkeit des Herrn Sch. mit seinen erheblichen sozialen Defiziten und seiner Unbeherrschtheit rekurriert wurde, seien die von Herrn Sch. im Haftverlauf seitdem gezeigten Disziplinverstöße zum Zeitpunkt der Verurteilung erwartbar gewesen, und gäben damit keinen Anlass zu einer veränderten Gefährlichkeitsprognose des Angeklagten. Somit stellte die Verteidigung den Antrag auf Ablehnung einer nachträglichen Anordnung zur Sicherheitsverwahrung gemäß §66B StGB.

Das Urteil…

Der Angeklagte wurde in Anwendung des § 66b StGB zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit zusätzlicher Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt.

Konkret bedeutet dies, dass der Angeklagte in eine spezielle Haftanstalt für Suchtkranke verlegt wird und alle zwei Jahre die Möglichkeit erhält, eine Prüfung der fortbestehenden Gefährlichkeit beantragen kann, in deren Ergebnis entschieden wird, ob der Angeklagte weiter in Haft verbleibt, oder in die Freiheit entlassen werden kann.

…und seine mündliche Begründung

In seiner über 30-minütigen mündlichen Urteilsbegründung bezieht sich der Präsident des Landgerichtes auf folgende Passagen des dem Urteil zugrunde liegenden Paragrafen 66b StGB; Abs. 1 und 2:

„(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind.

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.“

Die Urteilsbegründung aus Sicht der Autoren

Durch die in der Urteilsbegründung herangezogene „Gesamtwürdigung“ des Verhaltens des Angeklagten ist es nicht ausschlaggebend, welche Einzeltaten der Angeklagte während seines Strafvollzuges begangen hat, was somit einer Gesamtverurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten gleichkommt.

Die politische Bedeutung des Urteils

Rechtspolitische Würdigung

Entscheidend für die Anordnung und Aussetzung der Sicherungsverwahrung sind rein normative Urteile der Gerichte. Gleiches gilt für die Gefährlichkeitsprognosen der Sachverständigen. Solche Normativität verletzt allerdings mehrfach die Grundrechte.
Nach dem Rechtsstaatsprinzip muß alle strafende Staatsgewalt voraussehbar sein. Darin und in der Würde des Menschen wurzelt das Gebot der Strafrechtsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) als Abwehrrecht gegenüber dem Staat. Das Kreuz der Sicherungsverwahrung ist aber ihre nicht überprüfbare Normativität "Gesamtwürdigung", "Hang", personallsierte "Gefährlichkeit"), die sie offen für willkürliche Bewertungen macht. Vermutete Straftaten können als Anordnungskriterien niemals das Gebot der Strafrechtsbestimmtheit erfüllen. Die Rechte fälschlich als "gefährlich" Prognostizierter werden permanent verletzt ? in mehrerlei Hinsicht:

  • Sicherungsverwahrung wird als Maßregel zusätzlich zur Strafe angeordnet, obwohl sie sich de facto nicht vom Strafvollzug unterscheidet. Damit verletzt sie das Verbot der Mehrfachbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG). Aber auch wenn sie eine vom Strafvollzug unterscheidbare Form hätte, verstieße sie als zusätzliche präventive Verwahrung gegen das Verbot der Mehrfachbestrafung. Deshalb gilt zum Beispiel in Spanien jeglicher zusätzliche präventive Freiheitsentzug als verfassungswidrig.
  • Sicherungsverwahrung verstößt gegen das Verbot seelischer und körperlicher Mißhandlung (Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG). Der Sicherungsverwahrte wird einer totalisierend eingreifenden physischen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schädigung ausgesetzt. Sicherungsverwahrung bedeutet im Kern eine demoralisierende Ungewißheit der Lebensgestaltung und steht daher im Widerspruch zur Menschenwürde sowie der freiheitlichen Selbstbestimmung unter Anerkennung der Subjektqualität des Menschen.
  • Sicherungsverwahrung ist mit dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unvereinbar. Ihre für Willkür offene Unbestimmtheit macht sie ungeeignet, den Schutz der Allgemeinheit zu sichern.

Summa summarum: Sicherungsverwahrung wird in keiner Hinsicht den Anforderungen eines Rechtsstaates gerecht, sie ist ein bürgerrechtlich sehr gefährliches Konzept. Sie gehört abgeschafft, nicht ausgeweitet.“

(Hartmut-Michael Weber; Die Wiederauferstehung der Sicherungsverwahrung Gefährlichkeitsvermutun-gen versus Grundrechte . Aus: Grundrechtereport 1999)

Kommentar: Gesellschaftspolitische Würdigung

Die Vereidigung der Schöffen

Bevor der Präsident mit der Verlesung der Akten beginnt, vereidigt er die neuen Schöffen.

Beide lesen vom Blatt ab und sprechen die Endformel: “So wahr mir Gott helfe.“ In Ostdeutschland bekennen sich 85% der Bevölkerung nicht zu einem Gott. Die Wahrscheinlichkeit für einen Wurf mit zwei Gläubigen läge damit bei 2,25%. Warum bekennt man sich nach einer Schöffenbelehrung über die Notwendigkeit, wahrhaftig zu handeln, zum falschen Glauben? Oder gibt es für Opportunisten, wie in der NS-Zeit, wieder die Bezeichnung „gottgläubig“. Oder hat man gar Vertreter der religiösem, meist christlichen, Minderheiten ausgewählt? Das widerspräche dem Prinzip, eine repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt zur Basis der Auswahl von Schöffen zu verwenden.

Das neue Gesetz und der „Auserwählte“

Der vor Gericht Sitzende, wurde vom System als Erste Anwendung für die Neuregelung der Sicherungsverwahrung ausgewählt. Das System könnten in diesem Fall Mitarbeiter der Haftanstalten gewesen sein, wie ein ebenfalls im Zuschauerraum anwesender Referendar vermutet. Die Staatsgewalt schlägt anonym zu. Sinnlos nach den tatsächlichen Auslösenden zu fragen. Warum gerade Sch.? Und was ist mit den Tausenden vergleichbarer Fälle?

Das neue Gesetz soll die Anordnung einer Sicherungsverwahrung renitenter Strafgefangener nach Verbüßung der durch ein Urteil festgesetzten Strafe erleichtern. Der vorgebliche Anlaß für diese Gesetzesneuschöpfung sind wegen verhältnismäßig harmloser Straftaten Verurteilte, bei denen sich im Verlaufe der Haft nachträglich ein hohes Gewaltpotential herausgestellt haben soll. Geworben wurde dafür mit den harmloseren Varianten unter den Päderasten, wie Exhibitionisten und Grabschern, die im Gefängnis, wie auch immer, nachträglich einen deutlicher Hang zum knallharten Vergewaltiger gezeigt haben sollen. Bei Sexualvergehen an Kindern ist die Öffentlichkeit sehr aufmerksam und streng, und so trat das Gesetz dann auch nach zügiger Verabschiedung im Juli 2004 in Kraft.

Wir haben hier scheinbar eine ganz spezielle Perspektive auf die Neoliberale Gesellschaft vor uns, den Blick aus dem Winkel des formalen, geschriebenen Rechts. Diese Sicht läßt aber letztlich deren Kern ganz deutlich sichtbar werden.

Die Neoliberalen umgeben sich gerne mit einem modernistischen Flair. Die neue Zeit fordere einfach all diese hinter einem Wortschwall versteckten Gemeinheiten wie Globalisierung, Flexibilität und Innovationen. Das Wort Innovation steht anstelle von technischem Fortschritt. Dieser Begriff wiederum muß vermieden, ja sogar bekämpft werden. Es könnte ja jemand an die alte Selbstverständlichkeit erinnert werden, dass technischer Fortschritt nur im Zusammenhang mit gesellschaftlichem, eine emanzipatorische Wirkung haben kann.

Da gibt es also diese zahlenmäßig kleine Gruppe der Herrschenden, keineswegs homogen und schon gar nicht straff organisiert, mit Ihrer Gaunergesinnung gegen die den gesamten Reichtum der Gesellschaft produzierenden Menschen. Nicht nur gegen die, sondern auch untereinander. Aber darum geht es hier nicht. Hier geht es um das geschlossene, quasi verschworene Handeln nach außen.

Nicht eine Organisation, sondern ihre Gesinnung hält sie zusammen, ihr konservatives Weltbild, viel Opportunismus bei den Oberflächlichen, mehr archaischer Starrsinn bei den Fanatikern. Konservativ heißt beharrend. Beharrend auf gerade dem, was durch die Leistungen menschlichen Geistes längst überwunden worden ist – aber nicht in den Niederungen der Rechtswirklichkeit. Dem Menschen ist, wie schon in der Thora [ hebräisch: Lehre, Weisung, Gesetz, Brockhaus 2002 ] und später in der Bibel, prinzipiell nicht zu trauen. Er trägt eine Erbschuld in sich, also eine von vornherein zu erwartende Schlechtigkeit, weil seine Vorfahren es einmal gewagt haben, über diese Hierarchie nachzudenken ( vom Baum der Erkenntnis gegessen haben ) Es gibt eine „natürliche“ Hierarchie, in die man sich einzupassen hat.

Oberflächlich betrachtet, war dieser ganze Quatsch in den alten Bundesländern im Verlauf der letzten 40 Jahre schon längst überwunden. Die Erkenntnis angekommen, daß nicht der Teufel in den Menschen steckt, sondern daß sie durch das Leben, meist ohne wesentliche eigene Einflußmöglichkeiten, zumindest in der Kindheit, geprägt werden und das es typische Verbrecherkarrieren gibt, wie sie der Angeklagte mit lehrbuchhafter Vollständigkeit hinter sich hat.

Der Staat ist an den Grundsatz der Vehältnismäßigkeit gebunden, d.h. für Einbrüche in Gartenlauben, Mopeddiebstahl, Messerstechereien mit der Folge schwerer Verletzungen und das Ausrauben von Spielhallen kann nicht einfach lebenslang weggesperrt werden. Und daß es für jeden Menschen eine berechtigte Hoffnung geben muß, wieder innerhalb der Menschlichen Gemeinschaft zu leben, ist auch ein höherrangiger Grundsatz.

Das will man ändern. Mit man ist dieser reaktionäre Kern der bürgerlichen Gesellschaft gemeint, der schon so bescheuertes Zeug wie Vorsehung und Rassenschande, Schicksalsgemeinschaft des Deutschen Volkes, Untermenschentum und Unwertes Leben akzeptiert hat, um ungestört seiner Habgier frönen zu können

Worum geht es?

Jetzt wird ersteinmal das Instrumentarium staatlichen Wegschließens aufgebaut, langsam, Schritt für Schritt. Die USA sind da schon weiter. Die haben schon ein Konzentrationslager in Guantanamo und kleine Stasi-Knäste auf Schiffen und in besetzten Ländern.

Im Bereich der Justiz heißt es, ersteinmal einen Präzedenzfall schaffen. ,unauffällig, in der Provinz. Der Delinquent kommt aus einer Gruppe, die sowieso keiner mag, vor der man auch etwas Angst hat – asozial, gewalttätig und mit Glatzenimage. Letzteres zerstört der Betroffene, ohne es selbst zu merken. „Skins? – Nein, ganz normale Rechte.“ Aber es reicht. Keine Gefahr, dass alles auffällt. Zumindest im Osten, wo die Menschen nicht wissen, was Persönlichkeitsrechte wert sind, wo sie geduldig religiöse Leerformeln fremder Glaubensgemeinschaften nachsprechen, siehe oben. Noch ein bißchen Rechtsgeplänkel, Revision, Nachträge, Textzusätze, irgendwann hat man dann den Standard.

Sicher, es geht vordergründig um Kriminelle. Das werden mehr im Zuge der neoliberalen Talfahrt. Diese wird man auch so bekämpfen, ausmerzen war früher die gängige Vokabel. Beim Vorbild USA gibt es das alles schon.

Aber eigentlich geht es um mehr. Die, um die es wirklich geht, wird man nicht mehr als Kommunisten bezeichnen, wie im kalten Krieg, insbesondere in der McCarthy-Ära in den USA. Man wird sie nach US-Vorbild als Terroristen bezeichnen, aber sonst - alles wie gehabt. Es geht dann um Menschen mit Verstand, nicht um dumpfe, bockige Durchdreher.

Zu den aktiv handelnden Personen: Wir haben das schon erlebt, hinterher ist es dann keiner gewesen. Diese Juristen hätten auf dem Wege des Richterrechts ein Basiselement des humanen Strafvollzugs schaffen können. Sie hätten nicht einmal an den Dingen drehen müssen, nur richtig urteilen, auf der Höhe der Zeit, nach bestem Wissen und Gewissen.

Der Verfassungsrichter Kirchhoff, der heutzutage großes Aufsehen mit seinem Gesetzesentwurf zu Steuerrecht erregt, hat es 1998 vorgemacht, kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt, und der neuen SPD-Regierung gleich einen mächtigen Brocken ins Boot gepackt: Die materielle Benachteiligung der Familien sei verfassungswidrig. Jetzt müssen neue Gesetze das von vornherein berücksichtigen. Alle wußten gleich, das kostet wirklich Milliarden. Aber Recht ist Recht. Da ging es um das Familienbild, wie es die CDU propagiert.

Aber hier ? Die Armen Schweine sind selber schuld. Es gibt eben unterschiedliche Menschen. Den ganzen sozialen Klimbim, den braucht man nicht. Man will neben dem Rauschgiftentzug keine angemessene psychotherapeutische Behandlung in einer normalen Klinik ( die sind zur Hälfte als geschlossene Abteilungen organisiert, also geeignet für die sog. beschränkten Freiheitsgrade ), wie die Psychologin der Verteidigung vorgeschlagen hatte. „Viel zu teuer“ assistierte da schon der Psychiater aus Wiesbaden, der Scharfmacher, dem Präsidenten. “Das zahlt ihnen doch keine Kasse.“ Wie groß ist eigentlich die Kostendifferenz zwischen einem Platz in der Psychiatrie und einem im Knast? Es geht doch um Personalkosten. Das geht doch ins Geld, wenn man für bestimmte Tätigkeiten immer acht Vollzugsbeamte braucht.

Sicher, das Landgericht Gera ist nicht das Bundesverfassungsgericht. Dennoch, das meiste Recht entsteht als Richterrecht, als Reaktion auf vom Gesetzgeber eventuell auch bewußt schlecht formulierte Texte hin.

Die Juristen in Gera hätten etwas machen können. Wieweit sie sich aus Opportunismus oder ideologischer Voreingenommenheit verweigerten, können wir nicht sagen.

 

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