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Strategiediskussion
 

Hausaufgaben  

von Klaus Buschendorf

Es wird sein eine Zeit, da ist alles mit allem verknüpft.

Zeus hatte ins Amphitheater geladen. Die Bühnendekoration ordnete er persönlich: Das Orakel von Delphi in der Mitte, flankiert von den Regierungsgebäuden aller europäischen Länder – ein imposanter Anblick. Die Staatenlenker Europas werden diesen Traum nie vergessen, den sie gemeinsam träumen werden in dieser Nacht.

In das weite Rund der Sitzplätze zogen historischen Persönlichkeiten ein. In der Mitte, unten im Orchesterraum, werden die Regierungschefs sitzen. Sie sollten sich klein fühlen, die im tätigen Leben so Allmächtigen. In allen Richtungen blicken sie nach oben: Auf der Bühne – die Götter, im weiten Rund der Sitze – die Großen des Geistes. Noch fehlten die Regierungschefs. Die Nacht sollte erst fallen über den Olymp. Im letzten fahlen Tageslicht schwebten sie in das mit Fackeln gespenstisch beleuchtete weite Rund und nahmen ihre Plätze ein – ganz klein in der Mitte.

Dann schallte des Göttervaters Stimme laut in den weiten Raum. „Wir haben uns heute zusammen gefunden, um über Europas Schicksal zu sprechen. Unsere Gäste aus der materiellen Welt sollen hören, wie wir denken. Sagt mir den Anlass Eurer Sorge!“ – Viele sprachen nacheinander. Für die Zuhörer im Orchestersaal wurde wichtig: Seit sich Europa als zivilisiert betrachtete, steuerten die Menschen von ihrem Einkommen den Zehnten für ihre Kirche, den Zehnt für ihre Herrschaft. Es entstand Zoff in Europa, Veränderung, Aufruhr, Revolution und Krieg, wurde diese Belastung überschritten. Europa ist dafür überfällig, denn diese Marke wird bei weitem nicht mehr eingehalten.

„Wie soll es weiter gehen?“ fragte Zeus. „Was schlagt ihr vor? Nennt Möglichkeiten!“

Dieses Auditorium stritt nicht. Einzelne standen auf, fassten ihr Wissen, ihre Meinung zusammen, der Nächste ergänzte, zog die Schlüsse weiter. Mit Einzelheiten und Eifersüchteleien gab sich niemand ab. Ein Versuch, so sagten sie, war gerade gescheitert. Was als Volkseigentum gedacht war, führte nur zu einem monopolistischen System, brach dann zusammen. Einige in dieser Runde waren noch nicht weit genug weg und trauerten darum. Sie glaubten, die Arbeiter könnten es schaffen. Andere hielten ihnen entgegen, dass nicht Sklaven die Sklavenhalter stürzten. Barbaren eroberten Rom und schufen den Feudalismus. Nicht die Bauern, eine neu entstehende Schicht aus Kaufleuten und Handwerkern schuf die jetzige Gesellschaftsform. Wer sollte diese nun verändern? Wer hat Interesse daran und kann es auch?

Von den Kirchenvätern, von Thomas von Aquino bis zur Kommunistin Rosa Luxembourg, kamen sie alle zu Wort. Zeus fasste zusammen: „Es gibt die große Revolution, welche die Menschheit im Gedächtnis trägt. Doch mindestens so oft wie diese Revolution von unten, gab es die Revolution von oben. Herrscher erfüllten die Notwendigkeiten ihrer Zeit und stellten sich den Aufgaben. Ich erinnere an Preußen, Namen will ich nicht erst nennen. `Die Bourgeoisie rast über den Erdball...` schrieb Karl Marx und meinte, sein Jahrhundert, das neunzehnte zu beschreiben. Ein Zeitgenosse von Euch“, und damit wandte er sich an die Regierungschefs, „hat ihn berichtigt. Marx beschrieb das zwanzigste Jahrhundert. Die Bourgeoisie rast noch immer um den Erdball. Darum kann die neue Ordnung nur weltweit sein. Daraus folgt: Revolution von unten kann nicht alleine leisten, was heute für euch nötig ist. Ihr müsst mit tun, müsst es führen. Ihr seid auf gutem Wege mit eurer Europäischen Union. Doch bedenkt: Europa reicht heute bis Wladiwostok. Macht es nicht zu klein. Halbe Lösungen nutzen nichts. Noch etwas beachtet: Seit dem Alexanderzug aus Griechentagen hängt Europa zusammen mit dem Zweistromland, Persien und Ägypten. Bedenkt gut, wo ihr die Südgrenze finden wollt und was ihr tut, dass all die Völker zu euch kommen wollen.“ Er wandte sich wieder ins weite Rund des Amphitheaters: „Jetzt sprecht zur inneren Gestaltung!“

So viele Sprachen, so viele Völker, so viel verschiedene Kultur. Das ist der Genpool des Geistes. Das muss alles bleiben. Jedes Volk bestimme selbst darüber. Was aber muss einheitlich werden, damit diese Vielfalt auch zusammen hält?

Die Wirtschaft ist gemeinsam. Produktion und Handel brauchen überall gleiche Möglichkeiten, gleiche Grenzen. Aufruhr in der Orchesterloge: Der Markt müsse frei sein! – „Nein!“ donnerte Zeus hinunter. „Ihr hört, was eure Vordenker sagen. Der Markt ist kein Mensch. Der Markt ist blind für menschliche Bedürfnisse. Ihr müsst ihm Regeln geben, damit er den Menschen nützt!“ – Ein Sprecher nach dem anderen verglich Konzernleitungen von heute mit den Fürsten des Mittelalters. Wo der Kaiser es nicht schaffte, ihnen Grenzen zu setzen, Aufgaben zu geben, fiel das Reich auseinander. Die französischen Könige bekamen ihre Fürsten in den Griff. Sie jagten die Engländer über den Kanal, ihr Land wuchs auf Kosten ihrer Nachbarn. – Aus dem Machtbereich der deutschen Kaiser lösten sich viele Länder. Deutschland ist heute nur ein Rest des alten Reiches. Die Fürsten verschwendeten viel Kraft im Kampf gegeneinander. – „Legt euren Konzernen Zügel an, euren `Globalplayern`, gebt ihnen Ziele im Sinne der Menschen, sonst reitet ihr mit diesen eigensinnigen Pferden in die Wüste!“ rief Zeus hinunter in die Orchesterloge. „Stärkt die Kleinen gegen die Großen, wie die französischen Könige es getan, lange bevor `Globalplayer` wachsen konnten. Nun frage ich euch auf den Rängen: Wie können die heutigen Könige ankommen gegen ihre Fürsten?“

Schafft die Lobbys ab! erscholl ein Zwischenruf. Sichert die Existenz der Kleinen! Lasst keine Verdrängung zu, kein Gegeneinander! Vereinfacht euer Durcheinander! Seid selber Vorbild in Moral! Dient eurem Volk, vergesst die Partei!

Ruhig stand Zeus und ließ sie toben. Dann bot er Einhalt. Ruhe fiel wieder in das weite Amphitheater am Olymp. – „Ihr habt den Unmut eurer Vordenker vernommen. Sie haben alle eure Probleme schon erlebt. Lernen und Handeln müsst ihr selbst. Lernt aus der Geschichte. Lernt von euren Feinden, lernt von Siegern und Besiegten! Brecht eure Tabus im Denken! Sucht eure natürlichen Verbündeten! Dann werdet ihr die Aufgaben lösen können. Wir Götter kennen keine Gnade, löst ihr eure Hausaufgaben nicht!“

Langsam wurde es hell. In der Nähe des Tempels von Delphi lagen wieder die Trümmer, welche Spaziergänger und Touristen sehen können. Nebel stieg auf zwischen Büschen, Bäumen und Bergen und zog weit aus von Griechenland. In den Gedanken vieler Menschen formte er sich zur Erkenntnis: Unsere Probleme von heute sind alle lösbar. Andere Menschen haben sie vor uns schon bedacht. Man muss ihre Lösungen nur hören wollen.

Denn alle Probleme und Lösungen sind schon einmal da gewesen, nur eben – ein kleines bisschen anders.

April 2002

 

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