Handlungsfähigkeit einer Bewegung im Neoliberalismus: ein (kurzer) Erfahrungsbericht
von Esther Hesse
Ausgangspunkt für soziales Engagement dürfte meist die eigene mittelbare oder unmittelbare Betroffenheit von einem sozialen Missstand, z.B. Arbeitslosigkeit, Benachteiligung, Armut, Ausgrenzung usw. Selbiges bewirkt allerdings dann auch öfters, dass beim Zusammenkommen der so Betroffenen kollektiv das Gefühl über den Verstand triumphiert. Ein Umstand, der eine Fülle von Nachteilen mit sich bringt, vor allem, wenn dies bei vielen Menschen gleichzeitig der Fall ist und interagiert. So wird sich dann, statt produktiv zu werden, die halbe Zeit gegenseitig beschimpft.
1. Selbstbehinderung: „Individualisierung“
Man kommt also zwar zusammen, jedoch als viele Einzelne, nicht als ein „Wir“. Insbesondere bei Teilen der Anti-HartzIV – Bewegung fällt schon beim Lesen der Demo-Schilder auf, dass hier seltener positiv formulierte Forderungen für alle Betroffenen oder Menschen allgemein formuliert sind, wie z.B „Grundeinkommen für alle“ ; statt dessen häufig eine Art Miniautobiographie oder gar das unvermeidliche „Ich suche Arbeit“ auf den Schildern zu lesen ist, als ob potentielle Arbeitgeber sich auf Anti-Hartz-IV-Demos herumtreiben und hier nun auf einen aufmerksam würden.
Ein anderer Punkt ist, dass aufgrund der mangelnden Kenntnis darüber, warum es z. B. Tatbestände wie Massenarbeitslosigkeit, Ausgrenzung etc. gibt, eine eigenartige Konzeptlosigkeit durch die Bewegung geistert.
Diese lässt sich m. E. auch nicht dadurch erklären, dass es naturgemäß unterschiedliche Erklärungen für Massenarbeitslosigkeit gibt, denn dann müssten sich zumindest kleine festzusammenhaltende Grüppchen herausbilden, die mit einer ähnlich gearteten Weltanschauung an das Problem, seine Erklärung und seine Lösung herangehen.
Doch es überwiegt der Eindruck von lauter Einzelkämpfern. „Individualisierung“ nennen es harmlos die Soziologen, doch die Auswirkung derselben würde ich eher als katastrophal für die Handlungsfähigkeit von politisch Aktiven im Neoliberalismus einschätzen. Es bilden sich zwar unzählige Gruppierungen, diese lassen sich jedoch bei genauerem Hinsehen m.E. in zwei Kategorien zusammenfassen: zum einen lose Zusammenballungen, anlog einer Strassenbahn, wo Passagiere zusteigen und wieder aussteigen, so dass sich die Zusammensetzung und die Zielsetzung der Gruppe ständig ändert. Oder das andere Extrem: familienartige Zusammenkünfte der Immergleichen, die sich in ihrem Wogegen einig sind, nur wohin es gehen soll, das weiß keiner: Demonstrieren um des Demonstrierens willen, routiniertes Organisieren als Zwangshandlung. Ob das Organisierte noch den gewünschten Effekt hat, so scheint es, ist derweil eher nebensächlich geworden.
2. Selbstbehinderung: „Theorie ist Ideologie“
Ein weitere Beobachtung, die eng mit der Ablehnung, etwas Theoretisches zum
„ureigenprivatpersönlichen“ Lebensthema* zu lesen, verwandt sein könnte: beim Nennen verschiedener historisch bedeutsamer Autoren geht ein mühsam unterdrücktes „oh neeee!“ inklusive Augenverdrehen bis zu offen-aggressiven „Quatsch!“-Ausrufen über die Lippen bisher als friedfertig eingeschätzter sozial Bewegter und auch mancher Lokalpolitiker. Man kann sich ziemlich sicher sein, dass die gleichen Personen, die hier so heftig stöhnen und protestieren, sich noch nie einen einzigen Satz der doch so weltbekannten Autoren zu Gemüte geführt haben. Als hätte die jetzige Generation von sozialer Not Betroffener im Neoliberalismus sozusagen die Menschheitswerdung samt ihrer sozialen Problemstellungen ganz neu hervorgebracht, und daher sei alles, was ein paar Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte zuvor geschrieben sei, grundsätzlich und unwiederbringlich obsolet. Die Jagd nach dem Neuen, Einzigartigen, dem nie zuvor Dagewesenen, welche so bestimmend für die Berichtweisen der Medien ist, formt offenbar die Gemüter auch der alternativen Kräfte in der Gesellschaft tief.
„In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre passt ein Satz zum anderen, aber welcher passt zum Augenblick? Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zu viele verfolgt. Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen.“ B. Brecht
Auswege
Auswege aufzeigen können m. E. zwei Vorgehensweisen (u.a.):
a) ein Blick in die Geschichte, sich vom Vorgehen früherer sozialer Bewegungen inspirieren lassen, auch wenn gilt: Geschichte wiederholt sich nicht. Manches wiederholt sich aber unter einem anderen Mantel, man erkennt es daher nicht sofort als solches.
b) Die Suche nach mächtigen Verbündeten. Hier muss die Frage lauten: welche Teile der Gesellschaft, Wirtschaft usw. können gar kein Interesse an einer zunehmenden Verarmung der Bevölkerung haben? Diese potentiellen Partner mit ins Boot zu nehmen, kann ein wichtiger Teil einer Strategie sein.
*vgl. meinen kleinen Text „Über den Sinn des Lesens“ |