Visionen beim Sozialforum 2005 in Erfurt - Ist eine andere Welt möglich?
von Jürgen Zerull; 27.02.05
Wenn sich im Juli 2005 in Erfurt viele Menschen, Initiativen, Werkstätten, Gewerkschaftler und Künstler der Zivilgesellschaft zum ersten Sozialforum in Deutschland treffen, werden neben dem Knüpfen neuer Freundschaften die beiden wichtigsten Fragen der Gegenwart im Mittelpunkt stehen: "Ist eine andere Welt möglich?" und "Wie machen wir das?"
Hier sind Visionen gefragt, aber nicht nur das. Visionen allein nützen nicht viel, es wird deshalb auch um die praktische Umsetzung gerungen werden. Und hierin liegt eine latente Gefahr für die Mächtigen der Welt, die aktuell unter Bush Deutschland heimsuchen und das Volk dabei ausschließen ("Balkonverbot"), ihre Macht an das Volk zu verlieren.
Zunächst fragt sich der interessierte Leser, was mit "andere Welt" gemeint sei. Horst Eberhardt Richter (geboren 1923), Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, entwickelte in seinem Buch "Ist eine andere Welt möglich?" (Verlag Kiepenheuer & Witsch) Überlegungen zu einer solidarischen Globalisierung. Betrachten wir die heutige, sich immer schneller ausbreitende neofeudale Wirtschaftsentwicklung, die in Deutschland wohlklingende Namen wie Schröder, Müntefering, Clement, Rürup und Hartz trägt, sowie die damit einhergehende zunehmende Verarmung immer größerer Kreise der Menschen auf diesem Planeten, die daraus entstehenden sozialen Spannungen und die Aggressionskriege, angestiftet von den immer zügelloser agierenden religiös-determinierten militärisch-industriellen Komplexen der USA und Großbritannien, ist es notwendiger denn je, über Alternativen zu diesem Weg zu einer globalen Katastrophe nachzudenken.
Dabei steht die alternative Zivilgesellschaft noch fast hilflos einem schier unüberwindlichen scheinenden Gegner gegenüber, dessen krebsartiges Geflecht aus Wirtschaft, Verbänden, aus marionettenartiger Medienlandschaft, etablierter Politik und deren dienstbaren Geistern, Sicherheitsbehörden, Militär, Verfassungsschutz und Geheimdienste, die modernen Gesellschaften in seine Gewalt gebracht hat. Verstärkt nun auch in Deutschland vereint sich seit 1998 unter Kuratel einer grün-sozialdemokratischen Maske dieser giftige Pilz aus Politikern, Wirtschaftsbossen, Klerikern und deren Verbindungen, um die Gesellschaft unter die Lüge zum "Reformzwang" zu stellen, um einen angeblich alternativlosen Sozialabbau zu bewirken.
Nicht erst seit Ende des Zweiten Weltkrieges greifen diese Marktkolonialisten unter dem Deckmantel globalisierender Wirtschaftsverflechtung nach neuen Absatzzonen. Sie führen unter der Philosophie eines Lord Dahrendorf, eines Helmut Schmidt, des zum Kreis der aggressivsten und rhetorisch eloquentesten bürgerlicher Verräter sozialdemokratischen Gedankenguts zu zählenden Altbundeskanzlers, der sich weitestgehend der politischen Klasse des ausschließlichen rücksichtslosen Strebens nach Macht, Geld und Einfluss angeschlossen hat, und anderer, einen erbarmungslosen Krieg gegen die übrige Menschheit.
Politiker aller Couleur dieses geheimbundartigen Filzes wollen uns plastisch und medienwirksam, nicht nur bei Sabine Christiansen in Szene gesetzt, erklären, dass man diese Gesellschaft reformieren müsse und nur mit "ihren" Methoden auch reformieren könne. Aber sie meinen damit heute mehr denn je, ja fast ausschließlich, die finanziellen Ressourcen alternativlos von unten nach oben umzuverteilen, um sich selbst daran hemmungslos zu bedienen.
Über 5 Millionen registrierte, wahrscheinlich aber rund 9 Millionen tatsächliche Arbeitslose in der Bundesrepublik werden dabei als bisherige Opfer im Kampf um höhere Gewinne eingesetzt, zur Sklavenarbeit herangezogen. Der Rest der noch geduldeten Arbeitnehmerschaft wird mit dem Druckmittel einer Arbeitsplatzflucht in Billiglohngebiete oder des Dienstleistungstransfers ("Bolkenstein-Richtlinie") im Europäischen Markt zu Lohnverzicht und Abbau sozialer Rechte gezwungen. Dass sich etablierte Gewerkschaftsführer diesem Diktat des Kapitals inzwischen offenbar willfährig unterwerfen, vielleicht auch, um ihre eigene Oligarchie in Aufsichtsräten und anderen Funktionärskreisen zu sichern, ist dabei eine enttäuschende Erkenntnis. Diese hat bereits viele ehemals aktive Gewerkschaftler veranlasst, den augenscheinlich nicht selten zu Hilfstruppen des Kapitals verkommenen Gewerkschaftsprofis den Rücken zu kehren.
Die etablierten Parteien haben sich dabei über Ländergrenzen hinweg zu einer fast mafiösen Struktur vereinigt, deren Führungsspitzen offenbar nicht mehr davor zurückschrecken, ausschließlich Interessen der Wirtschaft gegen die Interessen der Menschen durchzusetzen und sich selbst ganz nebenbei die eigenen Taschen ("Tagegelder im Europaparlament") mit mitunter auch überflüssigen oder unberechtigten Entschädigungszahlungen und Nebeneinkünften vollzustopfen.
"Der neue Staat bekam den Namen Öffentliches Ding oder Republik. Seine Parteigänger hießen Republikanisten oder Republikaner, man nannte sie auch Dingeriche und manchmal Lumpenpack. Aber diese letzte Bezeichnung wurde nicht gut aufgenommen. Die Pinguinische Demokratie regierte sich nicht selbst. Sie gehorchte einer Geldoligarchie, die über Zeitungen die öffentliche Meinung machte und die Abgeordneten, die Minister, den Präsidenten in Händen hatte. Souverän ordnete sie die Finanzen der Republik und lenkte die auswärtige Politik des Landes...." (Zitat aus Anatole France: "Die Insel der Pinguine" 1907)
Doch wie soll man das ändern, kann man das überhaupt, welche Strukturen soll eine zukünftige Zivilgesellschaft haben?
Überall begegnen wir solchen Fragestellungen. Tausende Interessierte denken über Alternativen nach und versuchen, Lösungsansätze zu formulieren. Kaum beginnt sich eine breite Front gegen diese Entwicklung zu formieren, schon werden Versammlungsgesetze (eine neue Art der "Notstandsgesetze") verschärft, angeblich, um der brauen Gefahr zu begegnen. Doch dahinter steht die Frage, ob mit solchen Angstpsychosen nicht tatsächlich der Widerstrand gegen die staatlichen Repressionen mit solchen Versammlungsverboten behindert, wenn nicht ganz eingeschränkt werden soll. Das besonders schwierige aber an der Lösung dieser Fragen zur Zukunft der Gesellschaft ist, dass es bisher in Deutschland keinen Prozess und keine gemeinsame Plattform gab, der netzwerkartig die Inhalte der unterschiedlichen Konzepte transparent und verständlich in eine breite Öffentlichkeit tragen konnte. Die Konsequenz dieser fehlenden Plattform war eine patchworkartige Struktur von "Alleinkämpfern", so dass die Idee eines gemeinsamen zivilen Ungehorsams und des gemeinsamen aktiven Widerstandes heute immer noch viel zu wenig in Deutschland entwickelt ist.
Seit der 68'ern hat es praktisch keine erfolgreiche Bürgerbewegung mehr gegeben, so dass auch die heute Mächtigen des Landes, fast alles inzwischen assimilierte und wohlgenährte Barden jener Zeit, leichtes Spiel haben, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Ein Übriges hämmern bestimmte Tagesmedien mit riesigen Überschriften in die Gehirne.
Besonders gefährlich erscheint dabei auch die Tatsache, dass durch den gezielten und politisch gewollten Abbau sozialer Rechte im Einklang mit Milliardengeschenken an die ohnehin Reichen der Gesellschaft einer rechtsradikalen und rechtsrassistischen Szene der Boden geradezu einer Weise geebnet wird, bei deren Betrachten wir alle an historisch schreckliche Zeiten erinnert werden müssten. Nun ausgerechnet das Heer der an den Rand der Gesellschaft gestellten Arbeitslosen für diesen politisch gewollten Rechtsruck verantwortlich zu machen (wie dies der Bayerische Ministerpräsident Stoiber wohl kürzlich tat), ist an Schamlosigkeit und Menschenverachtung nicht mehr zu überbieten.
Doch das Volk schweigt.
Das Volk schweigt auch, wenn ein Kölner Kardinal und selbst der Papst unselige Vergleiche mit nationalsozialistischen Gräueltaten ziehen, so weit sind wir schon gekommen.
Aufklärung tut deshalb not. Sie ist notwendiger denn je.
Auch dazu soll das Sozialforum 2005 einen neuen Anstoß für unser Land geben. Viel hat sich schon bewegt. Erste erfolgreiche Demonstrationen lassen Hoffnung aufkommen, dass die Menschen begreifen, was mit ihnen geschient. Und dennoch zeugen die teilweise noch geringen Teilnahmen an Aktionen und die mangelnde Bereitschaft zum Kampf für die eigene Rechte davon, wie dringend ein Aufwachen aller Betroffenen notwendig ist. Erste Ansätze sind auch in Erfurt deutlich erkennbar: gemeinsame Aktionen beim Aufbäumen gegen Studiengebühren und den sozialen Kahlschlag durch Streichung von Fördergeldern für Familien- und Jugendarbeit aus Landesebene. Doch hier müssen wir alle am Ball bleiben, Aktionsgruppen organisieren, Widerstand an den Hoch- und Fachschulen leisten, Vorlesungsboykotte, Raum-Besetzungen, "Going In's" zu Landtagssitzungen und Parteitagen formieren und so das aktuelle soziale Plattmacherklima deutlich in die Öffentlichkeit tragen und den Menschen Mut machen zu zivilem Ungehorsam.
Diesen bundesweiten Prozess des Widerstandes anzustoßen, oder über Inhalte und Ziele einer zukünftigen Gesellschaft zu sprechen und sich zu verabreden und dafür einen offenen Raum für Darstellungen und Aktionen zu schaffen, wird das Sozialforum in Deutschland wohl mit die wichtigste Möglichkeit und Chance im Jahr 2005 sein.
Natürlich ist eine andere Welt möglich, abseits von Kriegen und Unterdrückung, abseits von rücksichtsloser Ausbeutung der Natur und des Menschen, abseits von Rassismus und klerikalen Konkordaten mit Adolf Hitler bis heute. Eine solche Gesellschaft vorzubereiten und den Weg dorthin zu finden, ist ein hohes Ziel und eine große Aufgabe aller, die guten Willens sind und den etablierten Strukturen den Kampf ansagen wollen. Dabei stellt die Uneinigkeit oder Spaltung in der aktiven Szene dieser Visionäre bisher noch eine gewisse Hinderung dar.
Auch diese zu überwinden und gemeinsam am Modell der Zukunft zu bauen, soll eine der vielen Aufgabe des Sozialforums in Deutschland 2005 sein, welches vom 21.07. bis 24.07.2005 in Erfurt stattfindet.
Jeder, der daran mithelfen möchte, diesen Prozess anzustoßen und ihn aktiv mitzugestalten, ist herzlich eingeladen, unter Zustimmung zur Charta der Weltsozialforen an diesem Prozess aktiv teilzunehmen.
Es lohnt sich, die Vision einer besseren Gesellschaft zu formulieren und den Weg zu diesem Ziel zu betreten!
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