Der Beutelwolf - Artenschutz und soziale Emanzipation
von Utz Anhalt
„Bis zum langsamen Tod des Elefanten haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren.“
Theodor W. Adorno.
„Wir sind alle Könige auf einem Totenfeld.“
Elias Canetti
Eines Morgens rieb ich mir die Augen und stand auf. Ich ging hinaus in die Welt, kein Vogelzwitschern streichelte meine Seele. Ich wollte wieder lebendiger Mensch werden. Es ging nicht. Es gab keine Welt mehr. Nahezu alle Großtiere, Kraniche und Störche, Elefanten und Nashörner, Menschenaffen und Bären, Pythons und Meeresschildkröten sind bedroht. Jede zehnte Vogelart steht vor dem Aussterben.
Das abendländische Naturverständnis bedingte die Genese des Kapitalismus: Gott herrschte über die Menschen und die Menschen über die Natur. Die Bourgeoisie kapitalisierte dieses Herrschaftsrecht des Adels, statt es zu überwinden. Die Theoretiker des Zivilisationsparadigmas in der Tradition von Descartes, Leibniz und Galileis setzten den Europäer und den Fortschritt gegen die Natur. Kant löste sich davon nicht, sondern fügte dem Mechanismus noch den Rassismus hinzu (physische Geographie), wobei die Minderwertigkeit der Menschen mit ihrer Nähe zur Natur zunahm. In diesem Punkt war er sich mit Hegel einig. Dieses Fortschrittsdogma der Moderne zeigte sich bis heute als Scholastik mit religiös-fundamentalistischem Kern, eine Religion, die das „Barbarische“, „Naturhafte“, „Religiöse“ der Vormoderne oder dem Außen zuschreibt (siehe Samuel Huntington).
Die Erfahrungen der Jahrtausende in der Erkenntnis der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Ökosystem galten der Scholastik des Mittelalters als abergläubisch, der Moderne als rückständig. Ziel des technischen Fortschrittes war es, in einer „Tabula rasa“ alles hinter sich zu lassen, was vorher war. Das Tier galt als etwas Anstößiges, was überwunden werden musste. Die US-Amerikaner plakatierten diese Pioniervorstellung des Fortschritts in der „Göttin der Freiheit“, die Telegraphen und Eisenbahn in „die Wildnis“ bringt. Native Americans, Wölfe und andere „wilde Tiere“ flohen vor ihr.
Hermann Melville zeigte den Mechanismus des Kapitalismus in Moby Dick. Ahabs Motiv ist Rache, Rache an einer Kreatur, die sich gegen die Vernichtung wehrt. Alles, was Ahabs Mannschaft tut, ist rational, nur das Ziel nicht: Es ist der Wahnsinn. Ahab jagt die Mannschaft der „Pequod“ (die nicht umsonst nach einer ausgerotteten Indianerkultur heißt) ins Verderben, nur weil es etwas geben könnte, das sich der Kontrolle entzieht. Das „Verbrechen“ des weißen Wales ist, sich nicht verwerten zu lassen. Die Verachtung des Anderen (Rassismus) und die Ausrottung der Wildtiere gehören zusammen wie der Weg durch die Rosenbeete von Gärtnern wie Samuel Huntington.
Der Kapitalismus zerstört das Ökosystem des Planeten, indem er sich ihm entgegenstellt. Der Kapitalismus existiert durch die Verwertung des Wertes. Werte werden geschaffen und zerstört. Der Kapitalismus zerstört lebendige Arbeit und verwandelt sie in tote Arbeit. Starke Mächte stehen einer sinnvollen Nutzung der Ressourcen entgegen: In den 1930er Jahre entwickelten US-Farmer Kleidung aus Hanf. Hanf ist eine Pflanze, die quasi uneingeschränkt einsetzbar ist, braucht weder komplizierte Bewässerung noch mühselige Ernte und reproduziert sich unermeßlich. Hanf laugt den Boden nicht aus, sondern baut ihn auf. Die Baumwollindustriellen schlugen zu und griffen ein Nebenprodukt dieser Pflanze (das Haschisch) an. Cannabis würde die Jugendlichen verwirren und aggressiv machen. Sie schaften es, den konkurrenzlosen Hanf zur illegalen Droge zu ächten.
Das Vorbild lebendiger Arbeit ist das Ökosystem: Das Ökosystem erneuert sich zu hundert Prozent selbst. Es kostet nichts. Es produziert keinen Profit aus lebendiger Biomasse, sondern recycled die „überflüssige“ Biomasse vollends. Das Ökosystem ist ein Perpetuum Mobile, eigentlich die Basis für eine humane Gesellschaft. Die moderne Naturwissenschaft weiß inzwischen, dass nicht tote Materie, sondern Beziehungsstrukturen das sind, was wir Leben nennen.
Leider denken manche Betonköpfe bei Artenschutz an „völkisch-reaktionären Heimatschutz“. Nichts ist falscher. Die Reaktionäre trieben die Welt 1914 in den Abgrund. Sie hatten an Wildtieren „geübt“. Nazis definierten sich über biologistischen Antisemitismus. „Blut- und Boden“ war die Speerspitze der Vernichtung der lebendigen Natur in der Moderne. Marinettis Futuristisches Manifest war eine Ode an die Kriegstechnik, die Naturvernichtung und die Frauenverachtung. Die Nazis setzten das, was sie der nichtmenschlichen Natur antaten, gegenüber den jüdischen Opfern um. Sie unterteilten die Welt in lebenswertes und „lebensunwertes“ Leben. Diese Politik hatte eine Basis in der Vernichtung der lebendigen Tierwelt; die Spaltung der Menschen in „Schädlinge“ und „Nützliche“ hatte seine Entsprechung in der Ungeziefervernichtung an Wildtieren. Die Nazi-Henker brachen den Leichen die Goldzähne heraus und verwerteten die Körper der Ermordeten. Das war Verwertungslogik in Konsequenz.
Sie hatte ein Vorspiel. Opfer waren „wilde Tiere“, „wilde Menschen“ und Frauen. 1810 wurde auf der Weltausstellung eine „Hottentot-Venus“ präsentiert. Die Frau verstarb schnell. Ihre Genitalien wurden präpariert und im Museum ausgestellt. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Kolonialherren gehörte das Ausrotten der Wildtiere. Fritz von Schellendorf rühmte sich, 60 Löwen, ein Selous hunderte geschossen zu haben. Bis 1914 hatten Offiziere, Kolonialbeamte, Bürger und Adlige,Farmer und Siedler die afrikanische Wildtierwelt bis auf Restbestände dezimiert. Die Herren ließen ab 1914 Millionen Menschen schlachten, nachdem sie die Welt in Jagdgebiete aufgeteilt hatten. Der Gesichtsausdruck der Wehrmachtssoldaten, die auf den Leichen ihrer Opfer posierten, hatte seine Entsprechung im Gesichtsausdruck der Kolonialjäger auf den Elefantenköpfen.
„Konkurrenten“ im Monopol auf den natürlichen Reichtum (Fischotter, Greifvögel, Luchse, Wölfe) wurden dezimiert - entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Professionelle Bisonjäger rotteten die Bisons aus, mit dem Ziel, den dort lebenden Natives ihre Lebensgrundlage zu nehmen. Das Fleisch der Kadaver verweste, die Zungen und Felle waren auf den Märkten im Nordosten eine Massenware. Ein menschenwürdigeres Wirtschaftssystem hätte mit den Bisonherden der Plains die damalige Bevölkerung des Westens („weiße und indianische“) ernähren können, ohne dass der Bestand gefährdet gewesen wäre.
Die Wandertaube war einst der häufigste Vogel der Welt. Ihre Schwärme zählten hunderte von Millionen. Heerscharen von Jägern verkauften die Tauben für 1 Dollar das Dutzend, vor allem als Schweinefutter. 1914 starb die letzte Wandertaube im Zoo von Cincinnati. Das Motiv war Profit und Gier. Diese Liste ist endlos fortsetzbar. Sei es der Beutelwolf, dem die Farmer Tasmaniens nicht eingestehen konnten, neben Kängurus auch einmal ein Schaf zu fressen, die Stellersche Seekuh, die dem Pelzmarkt für Seeotter zum Opfer fiel, das Quagga, aus dessen Häuten die Buren Getreidesäcke nähten. Der Mechanismus war ähnlich: Natur wurde für kurzfristige Profitinteressen vernichtet.
Die gleiche Verwertungsvorstellung zerstört auch das Leben der Menschen. Im Kapitalismus geht es nicht darum, ob die Maschinen die Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen unterstützen, die Menschen müssen vielmehr als Funktionseinheiten Teil der Maschine werden, die Natur ebenso. Die Lust des Menschen, seine Freude an der Umwelt wird zerstört. Die Regenwälder sind eine Wissenschaftsbibliothek für die heutigen und zukünftigen Menschen. Vielleicht 10% ihres Reichtums (Medikamente, Bionik, Nahrungsmittel...) sind bekannt. Was heute passiert, ist, diese Bibliothek kurz und klein zu schlagen und ihre Bücher als Brennholz zu verwenden. Das ist eine soziale Frage. Die Möglichkeit der Wissensaneignung wird damit, für die Profitinteressen weniger, der Mehrheit der Menschen für immer genommen.
Eine sozial emanzipatorische Artenschutzpolitik hätte bereits kurzfristig positive Auswirkungen. Die Regionen mit der höchsten Artenvielfalt liegen in den Ländern der Hungerleider. In Tansania, Uganda und Kenia ist der Wildtierreichtum der einzige „Rohstoff“, in dem afrikanische Länder den Preis bestimmen. Eine nicht zerstörende Nutzung (Fototourismus, lokales Hotelgewerbe) könnte den Lebensstandard und die Unabhängigkeit der Locals erheblich erhöhen.
Beispiel Spitzmaulnashorn: Innerhalb von 18 Jahren schossen hochorganisierte Banden den Bestand an Spitzmaulnashörnern um 95% zusammen. Die Mittelsmänner in Arabien brachten die Hörner auf den Weltmarkt. Die Profite aus dem Handel mit „exotischen Tieren“ werden nur von den Profiten aus dem Waffen- und Drogenhandel übertroffen. Durch die Anbindung der Trophäen an den Weltmarkt wird das Potential des lebendigen Wildtierreichtums bei einer nachhaltigen Nutzung den Communities genommen. Julius Nyere und Nelson Mandela erklärten die Erhaltung des Wildtierreichtums zur Priorität: Aus der Erfahrung antikolonialer Befreiungskämpfe. Es geht um die Erhaltung der Vielfalt des Lebens oder um die Aufrechterhaltung einer Ökonomie der Vernichtung.
Nur einige Beispiele, wie es auch geht: Im Lake Byuoni in Süduganda arbeiten Aidswaisen auf Inseln mit einer hohen Dichte an Vogelarten. Touristencamps sind in die Landschaft integriert. Die Jugendlichen, die ansonsten auf den Straßen von Kabale als Prostituierte geendet hätten, kochen selbst und verdienen an den Touristen. In der Pufferzone des Kibale -Nationalparks organisieren Locals ihre eigenen Projekte. Die Alternative wäre, Bananen für einen Weltmarkt zu produzieren, der sie nicht haben will. Die Touristen übernachten in den lokalen Herbergen.
Es fängt klein an. Die Zubetonierung intakter Biotope beraubt die dort lebenden Menschen des Genusses, wenn der Gesang eines Vogels Glückshormone ausschüttet. Der Warenkonsum bleibt ein Absorbieren toter Objekte. Lebendige Wildtiere bewegen sich, verhalten sich. Menschen können sie beobachten, von ihnen lernen (Bionik), sich an ihnen erfreuen, ohne zum Konsum gezwungen zu werden.
Wenn die Schäden an der Natur, die die Kommunen zu tragen haben, in die Bilanz einbezogen würden, hätte das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre nicht stattgefunden. Der Aufschwung der asiatischen Tigerstaaten wäre ein Fake. Ohne einbetonierte Flussläufe und mit Überschwemmungsgebieten und Altarmen hätte es die Elbflutkatastrophe wohl nicht in dem Ausmaß gegeben, hätten die betroffenen Menschen nicht ihre Häuser verloren.
Im Großen: Als die US-Bomber im Vietnamkrieg 75% des Regenwaldes mit Agent Orange einsprühten wurde die Menschheit des dortigen Reichtums für immer beraubt, ob es sich um Medikamente, nutzbare Pflanzen und Tiere, um Ökotourismus oder die Freude an der Betrachtung der Tiere handelt.
Die Entwicklung Indonesiens zum „Schwellenland“ betrieb Suharto nicht nur mit der Ermordung einer Million Kommunisten, sondern auch mit einer Dezimierung der Wildtierbestände. Während die indonesischen Kommunisten in den Folterkammern starben, holzten internationale Konzerne Borneos Regenwälder ab.
Fortschritt im emanzipatorischen Sinne bedeutet, dass die Mehrheit der Menschen sich individuell freier entfalten, das Leben lustvoller genießen kann als es derzeitig der Fall ist. Human wäre es, wenn Menschen frische Luft atmen können, wenn Kinder nicht an Krebs sterben. Human ist es auch, wenn Menschen sich, ohne Geld bezahlen zu müssen, an der lebendigen Natur erfreuen können.
Fortschrittlich wäre eine Technik, die dem Menschen dient und nicht dem Kapital. Fortschrittlich wäre damit auch eine Technik, die der Natur nicht schadet. Das schließt modernste Technik und Industrie ein. Es kommt nicht auf die Technik an, sondern darauf, wie und wofür sie genutzt wird.
Artenschutz ist Menschenrecht. Der Uranabbau in den Navaho-Reservationen gefährdet die dort lebenden Tiere und zerstört das Leben der Menschen. Der Rülpser eines Öltankers vor der Küste Spaniens zerstörte nicht nur Populationen von Meeresvögeln, sondern auch die Existenz von Austernzüchtern, die auf eine nachhaltige Nutzung des Ökosystems angewiesen sind.
Das ökologische Grauen der brennenden Ölfelder von Kuwait ist bekannt. Was hat die Jagd auf den weißen Wal von George W. Bush für ökologische Folgen und damit für Folgen für die Menschen, die in diesem Land leben?
Es geht um den Konflikt Entwertung von Menschen und nichtmenschlicher Natur oder Technik, die dem Menschen und damit auch der Natur dazu dient, sich zu entfalten, um globalen Amoklauf oder soziale und ökologische Emanzipation. Diskussionen über neue emanzipatorische Theorien sind gut und wichtig. Die Auswirkungen des bestehenden Systems könnten indes die Art Orang-Utan in 5 Jahren in Freiheit ausgelöscht haben. Der Handlungsbedarf besteht jetzt.
In den Hexenprozessen der frühen Neuzeit redeten Herrschaftsträger den „kleinen Leuten“ ein, ihre Nachbarn, Hirten, Kräutersammler, seien Werwölfe. Als in Sachsen das erste Wolfsrudel auftauchte, forderten einige Jäger sofort den Abschuss der Tiere. Ist es Zufall, dass in diesen Regionen die NPD ihre höchsten Ergebnisse bekam? Ist es Zufall, dass Jack London, dessen Bernhardiner Buck in die Wildnis zu den Wölfen zurückfindet, Anarchist war?
Im Zivilisationsdogma spiegelt sich die Anerkennung oder Missachtung des Fremden. Wie sagte Lévi-Strauss: Die europäische Wissenschaft wird sich niemals selbst erkennen, so lange sie nicht begreift, dass nicht eine Kultur auf der Welt minderwertig ist. Das Ökosystem hat auch ein Eigenrecht. Es funktioniert vollkommen ohne Menschen. Es stabilisiert diese Welt. Wie Eugen Drewermann sagte: „Was wir momentan anrichten, kommt einer Querschnittslähmung der gesamten Evolution gleich. Es bedeutet, alle Arten ausschließlich darauf auszurichten, ob sie für den Homo sapiens verwertbar sind.“
Ein Denken, dass den Europäer als Mittelpunkt in einer Welt aus toten Objekten ansieht, ist die Hybris des 19. Jahrhunderts. Wer die Vernichtung der Wandertaube als natürliche Entwicklung betrachtet, könnte auch sagen, dass sich die Menschen in Hiroshima nicht an Radioaktivität angepasst hätten, so David Day.
Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der Mensch die Natur. Die Erhaltung der Artenvielfalt und Menschenrecht schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. |