Ich habe einen Traum!
Oder wie der Neoliberalismus in die Knie gezwungen werden könnte in kürzester Zeit
Von Egbert Scheunemann
Stand: 26. Dezember 2004
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hegemonie des Neoliberalismus in Politik, Medien und so genannter Wirtschaftswissenschaft irgendwann und irgendwie ganz von alleine verschwinden wird, quasi in Folge eines Pendelschlages der Geschichte in die entgegengesetzte Richtung oder auf Grund einer vagen Fortschrittshoffnung, nach der langfristig sich schon alles zum Besseren wenden wird, beträgt nahezu Null.
Keinem Menschen soll hier der Mut genommen werden, aber wenn aus der Geschichte etwas gelernt werden kann, dann das Faktum, dass sich Gesellschaften nicht nur und unweigerlich hin zu höheren Kulturstufen entwickelten, sondern dass Staaten und ganze Imperien immer wieder, ja in der Regel untergegangen sind in nicht selten barbarischen Verlaufsformen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die neoliberale Asozialisierung des Sozialen, dass der neoliberale Kampf gegen alle Formen staatlich-demokratischer Öffentlichkeit (es sei denn, es geht um den gewinnträchtigen Ausbau des Überwachungs- und Sicherheitsstaates), dass der neoliberale Furor gegen jede Erscheinungsform des Kollektiven (es sei denn, es handelt sich um Vorstandskollektive oder das Kollektiv namens Börse), dass die neoliberale Förderung und das Durchpressen von Besitzindividualismus, Raffgier und Ellenbogenmentalität die westlichen Industriegesellschaften als demokratische, ja als Gesellschaften überhaupt vollkommen zerstören werden, liegt hingegen nicht bei Null.
Der Neoliberalismus hält alles bereit, um schwärzesten Kulturpessimismus nicht als Gemütsdefekt, sondern ganz realistische politische Grundhaltung erscheinen zu lassen. Entsolidarisierung reihum, Sozialleistungs- und Lohnkürzungen und klein beigebende Gewerkschaften überall – obwohl die Gewinne der Konzerne regelrecht explodieren, Einführung von Zwangsarbeit, Diskussion über die Zulässigkeit von Folter, Abwanderung der Modernisierungsverlierer zur politischen Rechten oder in den Privatismus (Wahlenthaltung), Flucht in den Alkohol und andere Drogen, ins esoterische Nirwana, in religiösen Fundamentalismus oder gleich in offenen Terrorismus – das sind die Ergebnisse neoliberaler Politik, deren Wirken, wie viele ihrer Protagonisten immer wieder betonen, ja eben erst begonnen hat. Viel Sozialklimbim, Staatsbürokratie und umwelt- oder arbeitsrechtliche Schutzregelungen sind noch abzubauen, Volkseigentum im Werte von hunderten von Milliarden Euro gilt es noch zu privatisieren. Erst wenn der letzte Kindergarten verkauft, die letzte öffentliche Bücherhalle geschlossen und die letzte Universität privatisiert ist, werdet ihr begreifen, dass mit dem Kapitalismus nicht gut Kirschen essen ist.
So beklemmend, so erdrückend und unaufhaltsam die hier angedeutete Entwicklungsperspektive erscheint – mit dem Spuk des Neoliberalismus könnte es in einem halben Jahr vorbei sein, wenn wir, wenn die politische Linke, wenn alle sozial denkenden und gut meinenden Menschen in bestehenden oder sich neu formierenden Parteien, in sozialen und politischen Bewegungen und vor allem in den Gewerkschaften sich zur Durchführung eines Projektes durchringen könnten, das ebenso einfach wie klar und Erfolg versprechend erscheint. Wir müssen es nur WOLLEN – und es dann MACHEN. Wovon ist die Rede?
„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Dieser Satz ist vollkommen wahr: Wenn die arbeitenden Menschen sich in diesem Lande verweigern würden, ja wenn in diesem hochgradig arbeitsteilig verflochtenen Wirtschaftssystem genügend viele arbeitende Menschen genügend lange Zeit sich widersetzen würden, strategisch wichtige Arbeiten auszuführen, käme dieses Land und damit der neoliberale Amoklauf in kürzester Zeit zum Stillstand. Dann würde sich zeigen, wer LETZTLICH die Macht hat
– wenn man es nur versteht, sich dieser Macht bewusst zu werden und sie klug einzusetzen.
Um konkret zu werden: Man stelle sich vor, eben jene Gewerkschaft, die gerade noch einen Knebelvertrag unterschrieben hat bei VW, einem Konzern, der in diesem Jahr einen Gewinn von 1,9 Mrd. Euro einfahren wird, würde diesen Knebelvertrag auf der Stelle kündigen und sämtliche Beschäftigten bei VW bundesweit zu einem unbefristeten Streik aufrufen, bis die VW-Führung klein beigibt und einen Tarifvertrag folgenden Inhalts unterschreibt:
- Alle Leistungskürzungen werden zurückgenommen.
- Die Löhne aller VW-MitarbeiterInnen steigen in den nächsten fünf Jahren entsprechend des Produktivitätswachstum und der Inflationsrate.
- Die Hälfte aller zukünftigen Gewinne wird allen VW-MitarbeiterInnen als Gewinnbeteiligung ausbezahlt nach dem Pro-Kopf-Prinzip.
- Die Geschäftsführung verzichtet für alle Zeiten auf alle Produktionsverlagerungen ins Ausland. Andernfalls, auch nur bei bekannt Werden diesbezüglicher Pläne, wird die gesamte Belegschaft sofort in einen unbefristeten Streik treten und alle Produktionsanlagen besetzen.
- Das Management wird aufgefordert, sich selbst nach Tschechien oder Bulgarien out zu sourcen als Strafe für erpresserisches Verhalten und verfassungsfeindlichen (Artikel 14!) asozialen Einsatz ökonomischer Macht.
Wichtig und unabdingbar wäre (ich rede hier also von einer Conditio sine qua non!), dass alle links und sozial orientierten Menschen in diesem Lande die VW-Belegschaft ohne zeitliche Befristung in ihrem Kampf unterstützen – und zwar ganz konkret und ganz MATERIELL. Man stelle sich vor, einige Millionen Menschen würden für die Zeit des Kampfes (der, wenn er denn wirklich vollständig und frontal erfolgen würde, wahrscheinlich in wenigen Wochen erfolgreich abgeschlossen wäre) zehn Prozent ihres Einkommens an die Streikenden spenden als „Lohnersatzleistung“ – welche klar denkenden und gut meinenden VW-Mitarbeiter sollten sich dann einem solchen Kampf verweigern?
Wichtig wäre zudem (ich rede hier also von einer zweiten Conditio sine qua non!), dass die zum Arbeitskampf aufrufende Gewerkschaft gleich zu Anfang klar macht, dass an VW nur ein Exempel statuiert werden soll – und dass der Kampf nach erfolgreichem Abschluss bei VW sofort in einem anderen Großunternehmen aufgenommen wird, das sich, wie Siemens etwa, ebenso durch verfassungsfeindliche Drohungen mit Produktionsverlagerungen und repressiver, ausbeuterischer Lohn- und Arbeitszeitpolitik hervorgetan hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Siemens (oder Karstadt oder Opel oder…) überhaupt noch gestreikt werden müsste, wenn den neoliberalen Amokläufern bei den Arbeitgebern, in Politik und Medien deutlichst gezeigt wird, dass alle wohl meinenden Menschen in diesem Lande nicht mehr gewillt sind, sich dem neoliberalen Sozial-und Ausbeutungsterror zu unterwerfen, dass dem offenen Klassenkampf von oben nun der offene (friedliche!!) Klassenkampf von unten entgegengesetzt wird, erscheint sehr gering.
Ein Konditional könnte also Geschichte machen: „Alle Räder stehen still, WENN dein starker Arm es will.“ Rein technisch-organisatorisch wäre ein solcher Arbeitskampf, der aufs Ganze geht, der offen (friedlich!!) angreift und die neoliberalen Asozialen in ihre Schranken weist, ein Klacks. Es geht AUSSCHLIESSLICH darum, ob wir, ob die politische Linke, ob die Gewerkschaften einen solchen offenen Kampf WOLLEN und dann auch solidarisch und faktisch DURCHFÜHREN.
Was könnte schief gehen? Habt ihr Angst, dass ihr im Gefängnis landet oder an die Wand gestellt werdet? Was habt ihr eigentlich noch zu verlieren – euch werden doch schon so die Löhne, das Weihnachts- und Urlaubsgeld gekürzt und Mehrarbeit for nothing abgepresst? Ihr seid doch, als Gewerkschafter, so und so schon die Betonköpfe, die ewig Gestrigen, die Blockierer – obwohl ihr faktisch NICHT blockiert und immer nur brav nachgegeben habt in jüngster Vergangenheit! Wie wäre es – ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert – , wenn ihr das System, den neoliberalen Amoklauf einfach WIRKLICH blockieren und die asozialen Neoliberalen vorführen würdet, so wie diese euch seit langer Zeit vorführen?
Ich rufe auf zu einem GROSSEN RATSCHLAG, an dem sich alle linksorientierten, sozial und human denkenden Menschen aus den verschiedensten Parteien und sozialen Bewegungen und vor allem aus den Gewerkschaften beteiligen, um über die konkrete Vorgehensweise zu beraten und konkrete Organisationsstrukturen aufzubauen – bis hin zur Einrichtung eines zentralen Streikkontos, auf das ab sofort Unterstützungsgelder einbezahlt werden könnten. Wichtig wäre, dass das alles in aller Offenheit vonstatten geht, um den Herrschenden frühzeitig aufzuzeigen, wohin der Hase laufen wird.
Was wir brauchen, ist MUT. Was wir brauchen, ist der WILLE, das hier Beschriebene zu TUN. Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren – auch so ein Satz, der, obwohl ebenso vollständig wahr wie jener oben, leider fast ebenso vollständig in Vergessenheit geraten ist.
Rufe ich zur Revolution auf? Nein. Und zwar aus tiefster Überzeugung. Die Französische Revolution von 1789 endete im jakobinischen Terror, die Russische von 1917 im stalinistischen und die Chinesische von 1949 im Terror der so genannten Kulturrevolution. Der emanzipierte, vollkommen aufgeklärte und selbstbewusste „neue Mensch“ ist ebenso VORAUSSETZUNG eines humanen Sozialismus wie sein ZIEL. Insofern ist der humane Sozialismus ein Langfristprojekt – gerade in Zeiten übelsten sozialen und mentalen Rückschritts. Wir leben aber NOCH in einer freien Gesellschaft – zumindest dem theoretischen Anspruch eines politischen Liberalismus nach, der noch nicht, wie sein reales Pendant, zum reinen Wirtschaftsliberalismus degeneriert ist. Und in einer freien Gesellschaft, in der Zwangsarbeit demnächst zwar unter Androhung von Sozialleistungsentzug perverser Weise aufgedrängt, aber faktisch und de jure noch nicht direkt erzwungen werden kann, ist Arbeitsverweigerung, auch in Form eines politischen Streiks, jedes Menschen Recht. Und nichts anderes hat die hier vorgestellte (friedliche!!) Kampfstrategie gegen den menschenfeindlichen Neoliberalismus und seine Schergen und Claqueure zum Inhalt. |