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Mobilisierung
 

"Die Menschen sitzen nicht im Kapitalismus wie in einem Käfig"

Aus Zeitschrift Psychologie Heute November 1984 Seite 29-37

Das PSYCHOLOGIE HEUTE-Gespräch mit Klaus Holzkamp

Psychologie heute: Herr Professor Holz­kamp, in Ihrer "Grundlegung der Psycholo­gie" nennen Sie als Ziel menschlichen und psychologischen Strebens die "verallgemei­nerte Handlungsfähigkeit". Damit ist, ver­einfacht ausgedruckt, kollektives vernünfti­ges Handeln zum Wohle aller gemeint. Es scheint, als ob wir von diesem Ziel weiter als je zuvor entfernt sind. Muß ein "Kritischer Psychologe" darüber nicht verzweifeln?

Holzkamp: Diese Handlungsfähigkeit hängt ab von den Möglichkeiten, die man hat, von der gesellschaftlichen Situation, in der zu handeln ist. Die Handlungsmöglich­keiten können natürlich ungeheuer redu­ziert sein. Denken wir beispielsweise an faschistische Staaten. Aber selbst unter den Bedingungen des Faschismus in diesem Lande hatte jeder noch Handlungsmöglich­keiten. die er nutzen oder vergeben konnte. Unser Ansatz einer subjektwissenschaftli­chen Analyse geht von der Annahme aus, daß ein Mensch, solange er lebt, Hand­lungsalternativen hat. Resignation, woher sie auch kommen mag, bedeutet immer. daß man die Situation zu allgemein und zu glo­bal betrachtet, daß man nicht genau genug hinschaut oder hinschauen kann, um die eigenen Handlungs- und Bestimmungsmög­lichkeiten zu sehen.

PH: In dieser Gesellschaft gibt es nun wahrlich genug "Spielräume". Es werden doch sehr viele Handlungsalternativen oder Angebote gemacht - ob das nun der ganze Freizeitbereich ist, die Ablenkungsmöglich­keiten für Jugendliche, etwa Discos oder andere Konsummöglichkeiten. Aber das sind sicher keine Alternativen in Ihrem Sinne?

Holzkamp: Warum nicht? Wir bemühen uns um eine subjektwissenschaftliche Betrachtungsweise, betreiben Psychologie also vom Standpunkt des Individuums aus. Das habe ich in meiner "Grundlegung" auszuar­beiten versucht. Wir bemühen uns, nicht Begriffe über Menschen zu bilden, sondern für Menschen. Wir wollen den "Standpunkt außerhalb" der traditionellen Psychologie in Richtung auf die Klärung und Verallge­meinerung des "Standpunkts der Betroffe­nen" überwinden. Deshalb kann die Kriti­sche Psychologie auch nicht vorschreiben, was gut und was schlecht ist, was der einzelne tun oder lassen soll. Vielmehr soll das Individuum in die Lage versetzt werden, seine Interessen zu erkennen und die eigene Situation so zu durchschauen, daß es seine konkreten Handlungs- und Lebensmöglich­keiten sehen und realisieren kann.

PH: Daß dies in unserer Gesellschaft möglich ist, bezweifeln wir...

Holzkamp: Doch, das ist möglich, in den durch die eigene Lebens- und Klassenlage gesetzten Grenzen natürlich. Der Kapitalis­mus ist keine so hermetische Angelegen­heit, daß die Menschen in ihm sitzen wie in einem Käfig. Dann wären ja schon gar keine Aussagen über den Käfig mehr möglich. Wir haben einen Standpunkt außerhalb des Käfigs, aber innerhalb der Gesellschaft. Um bei dem Beispiel "Disco" zu bleiben: Ob das nur eine Ablenkung ist oder eine Realisie­rung von Entwicklungsbedürfnissen, das muß der einzelne entscheiden, wir können ihm nur dabei helfen, das zu klären.

PH: Der Käfig ist doch im Kopf. Viele Menschen haben eben keinen Standpunkt außerhalb des Käfigs, von dem aus sie ihre Lage beurteilen können ... Sie haben in Ihrer "Grundlegung" den Begriff Selbst­feindschaft verwendet, womit Sie beschrei­ben, daß jemand subjektiv glaubt, sich selbst zu verwirklichen, dies in Wirklichkeit jedoch nur im Rahmen einer Hierarchie kann, die ihm gebietet, andere um der eige­nen Interessen willen zu unterdrücken oder zu benachteiligen.

Holzkamp: Wir können den Menschen nicht vorschreiben, welche Bedürfnisse sie haben sollen. Wenn jemand tatsächlich glaubt. unter diesen oder jenen Bedingun­gen in der bürgerlichen Gesellschaft zu­rechtkommen und leben zu können, dann ist es ja in Ordnung. Aber wir glauben, daß dieses Zurückstecken und Sicheinrichten für die meisten Betroffenen selbst wider­sprüchlich und auf Dauer auch unerträglich ist. Im Grunde merken die Menschen, daß dies "nicht alles gewesen sein kann". Dieses erfahrene Ungenügen muß zur Artikulation gebracht werden, Aber wo kein Ungenügen erfahren wird, kann auch nichts artikuliert werden.

PH: Es ist also nicht Aufgabe der Kriti­schen Psychologie oder der Wissenschaft überhaupt, den Menschen Vorschläge zu unterbreiten?

Holzkamp: Nicht ungefragt und von au­ßen. Solange die Erfahrung des Ungenü­gens nicht den Betroffenen zu Klärungen und zu Veränderungen seiner Lebensbedin­gungen drängt, solange er sein Leben in Ordnung findet, so lange haben wir uns nicht einzumischen.

PH: Soll man als Psychologe den Men­schen auch dann nicht auf die Sprünge hel­fen, wenn es um größere, kollektiv wichtige Fragen geht, etwa um den Frieden, die Ökologie oder andere? Soll man das falsche Bewußtsein nicht aufstören, nur weil sich die schweigende Mehrheit darin eingerich­tet hat und alles ziemlich erträglich findet'?

Holzkamp: Das Problem ist, daß solche Verhaltensweisen - also die Hinnahme von Pershings und Sozialabbau beispielsweise - nicht einfach nur unvernünftig sind, sie sind sozusagen von einer beschränkten Ver­nunft, es werden bestimmte Dinge wahrge­nommen, der Rest wird weggelassen. Inner­halb dieses Rahmens ist für viele Menschen ihr Verhalten durchaus vernünftig, richtig und begründbar. Die Funktion dieser Ein­schränkung besteht darin, Konflikten und Risiken aus dem Wege zu gehen. Ob man selbst die Kraft hat, solche Risiken und Gefahren auf sich zu nehmen, hängt von einer Unmenge historischer Bedingungen und Erfahrungen ab - meine Mutter sagte immer: "Kiek mal aus dem Fenster, wenn de keenen Kopp hast!" Zum Beispiel die Frauen: Was konnte früher eine Hausfrau und Mutter tun, die einfach zu Hause blei­ben mußte und sich nicht artikulieren konn­te? Jetzt hat die Frauenbewegung erstmals eine breite Artikulationsmöglichkeit ge­schaffen. Man kann also nicht einfach sa­gen, daß die Menschen früher nicht artiku­lationsfähig waren oder weniger unzufrie­den mit ihrer Situation, es fehlte einfach an organisatorischen oder kollektiven Möglichkeiten, die jeweilige persönliche Situa­tion zu überwinden. Allerdings: Frauen, die jetzt diese Möglichkeiten nicht wahrneh­men, die handeln tatsächlich gegen ihre Interessen. Denn heute haben sie eine Al­ternative.

PH: Wenn immer mehr Menschen sich solche Alternativen selbst erarbeiten, wenn es neue soziale Bewegungen gibt, was braucht man da noch die Psychologie? Wel­che Rolle können gerade die Kritischen Psychologen spielen, wenn die Menschen ihre Interessen selbst erkennen und sich Handlungsmöglichkeiten erarbeiten?

Holzkamp: Wir können zum Beispiel die vielfältigen Zusammenhänge aufdecken, in denen die Menschen durch Psychologisie­rungen und Personalisierungen an der Er­kenntnis und Realisierung ihrer Interessen gehindert sind. Dies haben wir etwa mit Bezug auf den Friedens-Kampf, die "Aus­länderfeindlichkeit", aber auch die Praxis von Sozialarbeitern versucht ...

PH: Die Psychologie kann also helfen, die Spaltung zwischen dem, was man tun wollte, und dem, was man tun kann, zu überbrücken? Den beruflichen Alltag, die Entfremdung erträglich zu machen, vielleicht sogar zu verändern?

Holzkamp: Die Kritische Psychologie geht immer davon aus, daß die Überwin­dung dieser Spaltung nur durch die Praxis zu erreichen ist. Es reicht nicht, sich die Spal­tung zwischen Soll und Ist im Kopf klarzu­machen. Das ist ja gerade unsere Hauptkri­tik an der bürgerlichen Psychologie, daß sie versucht, psychische Probleme nur im psy­chischen Bereich zu lösen. Unsere Auffas­sung ist, daß psychische Probleme der ver­kapselte Niederschlag von realen Widersprüchen und Beschränkungen sind. Wie solche Verkapselungen zustandekommen und wie man seine "Innerlichkeit" in Rich­tung auf die reale Durchsetzung von Hand­lungs- und Lebensmöglichkeiten überwin­den kann, ist eins unserer wichtigsten For­schunguprobleme.

PH: Ist die Kritische Psychologie auch eine praktische Psychologie und was ver­steht sie unter Praxis?

Holzkamp: Praxisbezug kann nicht hei­ßen, lediglich die Praxis des Psychologen abzusichern, zu rechtfertigen und mit "wis­senschaftlichen" Weihen zu versehen ... Die meisten Therapiekonzepte beispiels­weise sind ja nichts anderes als Rezepte für den Therapeuten, um in einem bestimmten, individuellen und beschränkten Setting zu­rechtzukommen. Sie setzen die Rahmenbe­dingungen als gegeben voraus und ermögli­chen es dem Therapeuten. sich darin einzurichten.­

 "Wir können den Menschen nicht vorschreiben, welche Bedürfnisse sie haben sollen"

Dabei werden zwar, soweit möglich auch die Interessen des Klienten be­rücksichtigt, auf keinen Fall aber darf in der Theorie die Tatsache der "Therapie", damit die Existenz des Therapeuten selbst. in Fra­ge gestellt werden. Dabei ist, wenn man "Therapie" verstehen und auch ausüben will, doch erst einmal deren gesellschaftli­che Herkunft und Funktion zu klären. Was ist denn das für eine Situation, in der ich, der ich mir doch "der nächste" bin, zu einem anderen, der "Spezialist" für mich ist, gehen muß und fragen: "Was ist mit mir?" Oder:

Welche allgemeineren Folgen hat denn "Therapie" für das Zusammenleben der Menschen? - Das ist schon seltsam: Je­mand, mit dem ich zusammenarbeite oder gar zusammenlebe, ist plötzlich nicht mehr für mich verfügbar - er ist in der Therapie. Er ist nur noch halb da, und vielleicht bin ich in der Therapie sogar Objekt der Verhand­lungen. Wie soll ich, wenn der andere mir in der Therapie entzogen ist, mich noch als Subjekt zu ihm verhalten und vertrauensvoll unsere gemeinsamen Probleme klären können? Ist die "therapeutische" Reparatur eines einzelnen unabhängig von den ande­ren und unter Umständen auf deren Kosten nicht eher Symptom und Bekräftigung der Gestörtheit intersubjektiver Beziehungen, also eigentlich selbst die Krankheit, die hier geheilt werden soll?

PH: Den Vorwurf der Fixierung der The­rapie auf den einzelnen würden die Familientherapeuten aber entschieden zurück­weisen - ihnen geht es doch gerade darum, alle Betroffenen einzubeziehen und ihnen gerecht zu werden.

Holzkamp: Ist das Problem nicht damit nur verschoben, indem jetzt die einzelne Familie gegen den Rest der Welt therapiert wird? Die Konflikte mögen ja zunächst so aussehen, als ob sie nur aus der Familie selbst stammen und dann auch in diesem Rahmen zu lösen sind. In Wirklichkeit sind das aber meist Widersprüche in der objekti­ven Lebenslage, denen die Familie gemein­sam unterliegt, und die hier lediglich als Widersprüche zwischen den Familienmitgliedern nach innen schlagen.

PH: Wenn man das zu Ende denkt, wenn man also versucht, die äußeren Lebensbe­dingungen zu verändern, um damit der Fa­milie zu ermöglichen, sich nicht gegenseitig fertigzumachen, weil sie glaubt, die Kon­flikte entstehen in ihr selbst, was ist das anderes als eine Form der Sozialarbeit? Was kann Therapie überhaupt sein?

Holzkamp: So einfach ist das nicht, nur mit Sozialarbeit. Man kann nicht sagen, ich verändere die äußeren Bedingungen, und dann geht es den Leuten gut. Sie müssen ihre Lebensbedingungen ja selbst ändern, man kann sie nicht für sie ändern, sie müs­sen selbst ihre Lage erkennen und Lösungen erarbeiten. Der therapeutische Prozeß, wie wir ihn verstehen und praktizieren, ist eine Wechselwirkung. Die psychischen Einkap­selungen und Widersprüche können in der Kooperation zwischen Therapeut und Klient nur aufgebrochen werden, indem schrittweise die Bedingungen verändert werden, in denen sie entstanden sind. Es ist weder damit getan, daß man den Leuten beipielsweise eine neue Wohnung gibt, noch ist es damit getan, sie in der alten zu lassen und sie dort anzupassen. Unsere Grundannahme ist ja, daß das Psychische eine subjektive Spiegelung der Verhältnisse ist, in denen ein Mensch lebt, manchmal eine unverstandene Spiegelung. In dem Ma­ße, wie ich die Verhältnisse schrittweise ändern kann, verändert sich auch meine Befindlichkeit.

PH: Ist die Psyche wirklich ausschließlich eine Spiegelung der Lebensverhältnisse? Gibt es nicht auch einen Bereich, der sich weitgehend unabhängig von gesellschaftli­chen Lebensbedingungen entwickelt hat, etwa in der engen Interaktion mit den El­tern während der ersten Lebensjahre? In dieser Lebensphase werden doch affektive und kognitive Aneignungsweisen der Reali­tät gelernt. Muß man nicht auch andere als nur gesellschaftliche Determinanten beach­ten - etwa Erziehungsstile und ähnliches?

Holzkamp: Gesellschaft darf man nicht nur verstehen als etwas "da draußen", das in einem Ausschließungsverhältnis zu den un­mittelbar-sozialen, etwa familialen Bezie­hungen steht. So wird zum Beispiel eine Mutter mit einem "überbeschützenden" Er­ziehungsstil nie begreifen, daß und wie sie damit die eigenen Lebensmöglichkeiten und die der anderen Familienmitglieder be­hindert, wenn sie nicht begreift: Es ist die traditionelle Familie als gesellschaftliche Institution, in der sie als "Hausfrau" und "Mutter" nur auf diesem Wege des emotio­nalen Abhängigmachens der Kinder einen Rest an Einfluß und Befriedigung erhalten kann. Wenn also von ihr die "überbeschüt­zende" Haltung nicht lediglich auf ein ande­res Symptom mit gleicher Funktion in der Familie verschoben, sondern wirklich überwunden werden soll, so muß sie sich gegen ihr Eingesperrtsein in die "Familie" weh­ren, das heißt im Rahmen des Möglichen sich den traditionellen Restriktionen der "Hausfrauen"-Rolle zu entziehen versu­chen.

Eine andere Frage ist, wie sehr der Er­wachsene durch seine Kindheit determiniert ist. Und da sind wir keineswegs der Mei­nung, daß er dieser Determination rettungs­los ausgeliefert ist. Vielmehr ist unserer Auffassung nach die Praxis, gegenwärtige Schwierigkeiten einfach aus der Kindheit erklären zu wollen, ein zwar wohlfeiles, aber flaches Erklärungsmuster für den Psy­chologen oder die von ihm damit bedienten Klienten: Kein Wunder, bei der Kindheit. Tatsächlich ist die Determination durch die Kindheit keine voraussetzende Tatsache, sondern die zu klärende Problematik: Unter welchen spezifischen Bedingungen bin ich als Erwachsener auf meine Kindheit fixiert, und welche Funktion hat dies in meiner heutigen Lebenslage?

Wie kann ich die Verflochtenheit und die Verfallenheit an meine frühkindliche Situa­tion lösen? Wenn eine solche Verflochten­heit vorliegt, ist das ein Moment meiner gegenwärtigen restriktiven Handlungsfä­higkeit, ein Indiz meiner eingeschränkten Möglichkeiten. Ich kann meine Handlungs- ­und Lebensmöglichkeiten nur soweit entfal­ten, wie ich meine Kindheit als meine Ver­gangenheit, ein wichtiges Stück meiner Geschichte erkenne, damit gleichzeitig begrei­fe, daß ich heute kein Kind mehr bin, also nicht mehr mit kindlichen Mitteln mein Leben bewältigen kann.

PH: Aber wir können doch festhalten, daß es individuell sehr unterschiedliche Be­reitschaften und Fähigkeiten gibt, Lebensbedingungen zu verändern, die Bedingun­gen des eigenen Lebens zu gestalten ...

Holzkamp: Wesentlichen Einfluß auf die zentralen Prozesse zu gewinnen, ist gleich­bedeutend mit der Veränderung der gesam­ten Gesellschaft. Das kann ich als einzelner natürlich nicht, wir sind abhängig von histo­rischen Bedingungen und gegenwärtigen Möglichkeiten. Die Idee, den Kapitalismus mal eben kurz zu kippen, ist naiv, der Kapitalismus hat eine Lebenskraft und Überlebenskraft entwickelt, die man sich nie hätte träumen lassen. Er ist noch lange nicht am Ende. Gerade angesichts der inter­nationalen Konflikte und Verflechtungen muß man sich also auf einen langen Weg der Koexistenz gefaßt machen, wenn man keine Katastrophenpolitik betreiben will. Für uns als Subjekte bedeutet dies: um die Verbes­serungen unserer Lebens- und Entwick­lungsmöglichkeiten innerhalb des Kapitalis­mus zu kämpfen, deren erfahrene Grenzen langfristig die Überwindung der kapitalisti­schen Restriktionen menschlicher und menschenwürdiger Entwicklung unabweisbar machen.

PH: Ich mochte noch einmal auf Ihre These zurückkommen, daß die Psychologie den einzelnen nicht direkt beeinflussen, sondern ihm nur Hilfestellung geben darf, selbst seine Lage zu erkennen. Ist dies nicht ein ziemlich bürgerlicher Standpunkt? Das ist doch die Maxime "Du sollst nicht indok­trinieren!", Respektierung der freien Ent­scheidung. Dahinter verbirgt sich die Auf­fassung, daß jedes Individuum für sich selbst verantwortlich ist, daß jeder kollekti­ve Beeinflussungsversuch schon Ideologie sei, und so weiter.

Holzkamp: Bürgerlich wäre dieser Standpunkt dann, wenn wir davon ausgehen würden, daß es keine wahre Erkenntnis über gesellschaftliche Zusammenhänge gibt, daß also jede Auffassung inhaltlich gleichberechtigt neben der anderen steht. Wenn wir unseren eigenen Analysen und Denkmitteln aber wirklich vertrauen, so folgt doch daraus: Wenn der einzelne seine Situation wirklich durchschaut und so seine Interessen erkennt. so muß er selbst zu Schlußfolgerungen und Praxisformen kommen, die ihn, soweit ihm möglich, zum Zusammenschluß mit anderen und näher an die fortschrittlichen Kräfte heran führen. Nur: Wir können diesen Erkenntnisprozeß nicht stellvertretend für ihn vollziehen.

Dies schon deswegen nicht, weil es para­dox ist, von jemand zu verlangen. er solle seinen eigenen Standpunkt einfach von an­deren übernehmen - nur, wenn er ihn sich selbst erarbeitet, ist es wirklich sein eigener Standpunkt. Weiter ist hier zu bedenken, daß allgemeine Erkenntnisse über gesell­schaftliche Verhältnisse, auch wenn sie rich­tig sind, noch lange nicht hinreichend kon­kret die Situation und die Möglichkeiten des einzelnen erfassen können.

Das individuelle Subjekt braucht zur Klä­rung seiner Lage und seiner Interessen zwar allgemeine Einsichten, muß diese aber auf die eigenen Lebensbedingungen und -mög­lichkeiten hin konkretisieren, die es nur selbst hinreichend kennen kann. Wenn ich glaube, in soziologischer Manier aus äuße­ren gesellschaftlichen Daten wie Schichtzu­gehörigkeit, oder Milieu das Bewußtsein der Individuen ableiten zu können, so geht das über die Köpfe der Betroffenen hinweg: Sie finden sich darin (mit Recht) nicht wie­der, sehen sich in ihren Befindlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten übergangen.

Um ein Beispiel zu bringen: Wenn man der Auffassung ist, Trinken als Ausweg aus persönlichen Schwierigkeiten sei unpoli­tisch und befestige nur die Abhängigkeits­verhältnisse, so ist dies zwar allgemein rich­tig. Dennoch kann man zusammen mit ei­nem einzelnen Betroffenen nach gründli­cher Analyse seiner Situation - etwa mit Hilfe der kritisch-psychologischen Begriff­lichkeit und Verfahrensweise - zu der Auf­fassung kommen, daß für ihn das Saufen die vergleichsweise beste Lösung ist. Wenn ich dem Betroffenen hier diese Konsequenz nicht zugestehe, also schon vorher weiß, was bei meiner psychologischen Interven­tion rauskommen muß, nämlich, daß das Saufen aufzuhören hat, dann habe ich den anderen als Subjekt schon ausgeklammert, täusche eine Berücksichtigung seiner Be­findlichkeit und Situation letztlich nur vor. Tatsächlich drücke ich ihm, wie geschickt und "psychologisch" auch immer, meine Wert- und Handlungsvorstellungen auf, was gleichbedeutend ist mit der Durchsetzung von herrschaftskonformen Ordnungsvor­stellungen.

PH: Mal ein anderes Beispiel: Sie fahren als Kritischer Psychologe in der U-Bahn und hören, wie vier Jugendliche, offensichtlich arbeitslos, über die "Kanaken" herziehen und sich mit Gewalttaten gegen Türken brüsten. Als Kritischer Psychologe muß man da doch sehr viel Toleranz aufbringen, um dieses Gerede überhaupt zu ertragen, ohne einzugreifen. Oder soll ich es den Jugendlichen überlassen, ob sie einen Tür­ken verprügeln oder nicht? Soll ich das erst mal ausklammern und versuchen, denen das Beziehungsgeflecht aufzudröseln, in dem sie gefangen sind, weil ich die wahren Zu­sammenhänge und Ursache ihrer Aggres­sionen kenne?

Holzkamp: Die Auffassung, daß der an­dere seinen Standpunkt, wenn er seiner sein soll, selbst erarbeiten muß, bedeutet ja nicht, meinen eigenen Standpunkt aufzuge­ben

 "Niemand ist rettungslos der Determination durch seine Kindheit ausgeliefert"

oder zu verstecken. Ich stecke mit mei­nen Möglichkeiten und Überzeugungen in der Analyse drin, und zwar radikal. Daß ich dagegen bin, daß die über Türken herzie­hen, ist zunächst keine psychologische Fra­ge, sondern erklärt sich aus meinen von mir zu vertretenden Einsichten und Handlungs­weisen.

Wenn ich also mit den Jugendlichen rede, mache ich ihnen klar, daß ich es für falsch und letztlich selbstschädigend halte, was sie da tun. Erst dann, wenn ich das klar ge­macht habe, reden wir weiter, warum ich diesen Standpunkt einnehme und sie den anderen. Ich bin ja nicht der liebe Onkel, der alles verzeiht und versteht, ich habe eine ganz dezidierte und wohlbegründete Posi­tion, die ich - aus den genannten Gründen - aber dennoch nicht einfach dem anderen aufdrücken kann ...

PH: ... und doch hoffe ich, daß er Ein­sicht zeigt?

Holzkamp: Wobei Voraussetzung ist, daß der andere überhaupt in eine Beziehung eintreten will. überhaupt diskutieren will. Die haben in der U-Bahn sicher kein Inter­esse, mit mir überhaupt zu reden. Wenn es aber zu einem Gespräch kommt, und wenn sich dabei tatsächlich wesentliche Klärun­gen erreichen lassen, so muß es den Betei­ligten deutlich werden, daß die Türken das falsche Objekt ihrer Aggression sind, daß es vielmehr gilt, mit den Türken gemeinsam um Lebensbedingungen zu kämpfen, unter welchen die Benachteiligten nicht nur auf Kosten der noch mehr Benachteiligten ei­nen Rest von Selbstgefühl aufrechterhalten können.

Wenn so die Auseinandersetzung über psychologische Klärungen politisch gewen­det werden kann, hebt sich auch der Gegen­satz zwischen mir und den Jugendlichen auf.

PH: Aber dennoch müssen wir uns als Psychologen fragen, warum manche Ju­gendliche ihre Frustration in Aggressionen gegen Minderheiten austoben, andere wie­derum nicht. Wir können doch nicht einfach platte gesellschaftliche Kausalitäten unter­stellen, wir müssen doch in diesem Falle auch die kindliche Sozialisation und andere psychologische Einflußgrößen, etwa in der Familie, untersuchen.

Holzkamp: Natürlich. Aber mit der An­nahme von "Einflußgrößen" aus der kindli­chen Sozialisation und Familie habe ich, wie gesagt, auch meine Schwierigkeiten: Hier besteht ja immer die Gefahr, daß man den anderen lediglich als Produkt solcher Deter­minanten faßt und damit letztlich als Subjekt negiert.

Wir untersuchen schon seit mehreren Jahren - in unserem Projekt "Subjektent­wicklung in der frühen Kindheit" - den komplexen Wechselwirkungsprozeß, in dem Kinder und Erwachsene in der Familie sich Handlungsmöglichkeiten schaffen und sich dabei häufig gegenseitig einschränken. Dabei haben wir unter anderem bestimmte gängige Erziehungstechniken unter einem neuen Aspekt untersucht, nämlich unter dem Gesichtspunkt, wieweit die Eltern, in­dem sie auf solche Weise "erziehen", nicht tatsächlich die Entwicklung der Kinder be­hindern und dabei gleichzeitig ihre eigene Situation erschweren. Nehmen wir als Bei­spiel eine gebräuchliche Erziehungstechnik, die wir "Gleichheitsregulation" genannt ha­ben: alle Kinder kriegen das gleiche. Du kriegst ein Spielzeug, dann kriegst du auch ein Spielzeug. Du kriegst zwei Scheiben Wurst, dann kriegst du auch zwei Scheiben Wurst. Das sieht so aus, als ob das vernünf­tig und gerecht wäre. Es ist scheinbar ein­fach und handhabbar, aber es führt schließ­lich dazu, daß die Kinder gar nicht mehr darauf achten, was sie selber eigentlich wol­len. Sie achten nur noch darauf, was der andere kriegt. Das ist eine Entwicklungsbe­hinderung in dem Sinne, daß das Bewußtsein für die eigenen Interessen, damit die Möglichkeit subjektiver Bestimmung des eigenen Lebens, hier eingeschränkt wer­den. Diese Regulationsformen werden dann von den Kindern übernommen und gegen die Erwachsenen angewandt. Da man ja nie hundertprozentig gerecht sein kann, haben die Kinder ständig etwas einzuklagen von den Eltern. Das groteskeste Beispiel ist das: Von drei Kindern will jedes in der Mitte sitzen. Auf diese Weise klammert man die Kinder nicht nur, indem man sie zu manipu­lieren versucht, als Partner bei der Bewälti­gung von Alltagsproblemen aus. Sie werden sogar zu Gegenspielern. sie machen den Eltern das Leben zu Hölle, indem sie - quasi in einer Art von Gegenmanipulation - deren Prinzipien dauernd gegen sie selbst kehren.

Wir versuchen nun im Forschungspro­zeß, die These von der entwicklungsbehin­dernden Wirkung der "Gleichheitsregula­tion" für Kinder und Eltern dadurch zu überprüfen, daß wir mit den Betroffenen zusammen Bedingungen schaffen, durch die die hier bestehende Wechselverstärkung von Manipulation und Gegenmanipulation durchbrochen ist: Indem auf diese Weise die Kinder in höherem Maße ihre Subjektivität artikulieren, ihre eigenen Interessen ein­bringen können, sind auch die Eltern aus dem hoffnungslosen Versuch, ihre Kinder über deren Köpfe hinweg zu kontrollieren, entlassen, und ein höheres Niveau der inter­subjektiven Gemeinsamkeit der Lebensfüh­rung ist erreichbar.

PH: Aber diese Gleichheitsregel ent­stand doch nicht in der Familie selbst, diese Management-Philosophie ist doch kein binnenfamiliäres Phänomen. Wo kommt sie her?

Holzkamp: Das ist natürlich die Logik der Tauschverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft. In der Distributionssphäre ist man dieser Logik zwangsläufig praktisch unterworfen. Nur in der Familie muß dies tatsächlich nicht sein. Hier handelt es sich um eine blinde Reproduktion von ideologi­schen Formen, die für das Familienleben, wie dargestellt, trotz oder gerade wegen ihrer oberflächlichen Plausibilität, weder nötig noch förderlich sind.

PH: Wenn man diese Tauschverhältnis­se, wenn man die Ideologie der Gesellschaft aus der Familie ausklammern kann, wenn man sie sogar innerhalb der Familie überwinden kann, dann wäre die Familie ja ein Trainingsgelände für Veränderungen auch im gesellschaftlichen Bereich.

HoIzkamp: Dabei ist zu berücksichtigen, daß man ja nicht nur in der Familie lebt, sondern etwa im Spannungsfeld zwischen Familie und Berufstätigkeit, wobei es aus dem widersprüchlichen Verhältnis dieser beiden gesellschaftlichen Bereiche Er­kenntnisse zu gewinnen und Konsequenzen zu ziehen gilt. - So berichtet Ole Dreier, ein Kritischer Psychologe ans Dänemark, an­läßlich der Darstellung eines Therapiepro­zesses von einem Familienvater, der als Lohnarbeiter an seinem Arbeitsplatz die von ihm verlangte Leistung bringen muß, und zwar sofort, oder er verliert seine Ar­beit. Diese Anforderung projiziert er nun auf seinen kleinen Sohn, indem er auch diesen vor die Alternative stellt: Entweder du kannst das, oder du kannst es nicht - dann gib her, dann mach ich das. In der Therapie wurde diesem Vater allmählich klar, daß dieses Verhalten in der Familie nicht nötig ist, daß es dort Entwicklungsspielräume gibt, die draußen nicht denkbar sind.

Draußen am Arbeitsplatz, kann man nicht sagen: Ich kann's noch nicht, laß' mir etwas Zeit, ich werde es schon lernen. Aber es gibt keine blinde Notwendigkeit, die Zwänge der Arbeitswelt in die Familie her­einzuholen. Die daraus entstehende Ent­wicklungsbehinderung des Kindes ist also überflüssig und letztlich auch selbstschädi­gend für den Vater, der unter seinem schlechten Verhältnis zu dem Jungen leidet. Wenn ihm das klar geworden ist, dann kann er auch erkennen, daß ihm in seiner Lohnar­beiterfunktion Entwicklungsmöglichkeiten

"In der Familie gibt es Entwicklungsspielräume - es ist keine blinde Notwendigkeit, die Zwänge der Arbeitswelt in die Familie hereinzuholen"

nicht zugestanden werden und er so in sei­ner Subjektivität negiert ist, daß in seinem Betrieb also eigentlich unmenschliche Ver­hältnisse herrschen. Das ist noch keine gesellschaftsverändernde Erkenntnis, aber immerhin ein Stück kritische Entwicklung im Denken.

PH: Diese Erkenntnis und diese Vorge­hensweise sind nun aber nicht unbedingt original kritisch-psychologische Ideen, auch manche Psychoanalytiker oder Familien­therapeuten arbeiten so ...

Holzkamp: Natürlich gibt es Gemein­samkeiten mit anderen Positionen. Was uns jedoch von ihnen unterscheidet, ist die Ein­beziehung gesamtgesellschaftlicher Ver­hältnisse, die Erforschung ihrer Vermittlun­gen mit der individuellen Subjektivität. Wir fassen und erforschen auch die Familie als Teil des gesellschaftlichen Gesamtzusam­menhangs. Um dies an einem weiteren Bei­spiel aus Ole Dreiers Buch zu verdeutli­chen: Im Lauf der Therapie erkennt der erwähnte Vater, woraus bestimmte, schein­bar ausweglose Konflikte mit seiner Frau entstehen: Während für sie die Familie das einzige Lebenszentrum ist, hat sich bei ihm der Umstand, daß er auch noch im Betrieb arbeitet, auf spezifische Weise in seiner Befindlichkeit niederschlagen. Er hat nämlich die Gewohnheit entwic­kelt, bei Schwierigkeiten in einem Bereich dadurch innerlich auszuweichen, daß er sein Überwechseln in den anderen Bereich anti­zipiert. Er ist also quasi ein Wanderer zwischen zwei Welten, der nirgends richtig zu Hause ist und sich weder in der einen noch in der anderen Welt wirklich engagiert. So muß es die Frau natürlich zur Verzweiflung bringen, wenn sie erfährt, daß ihr Mann, immer wenn es zu Hause schwierig wird, in die innere Emigration geht, geistig wegtritt und sie mit den Problemen allein läßt.

Dieser Unengagiertheit und Teilnahms­losigkeit entspricht natürlich die Isolation des Mannes in der Familie: Er gehört ei­gentlich nicht dazu, ist in einer Art von "Untermieter"-Position. Die andere Seite dieser Problematik ist sein mangelndes En­gagement für seine Interessen im Betrieb, seine Unwilligkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren, weil er dort wiederum lediglich eine Gastrolle als Familienvater gibt und das Zuhause als sein Lebenszentrum fabuliert. Man sieht, daß es eine bestimmte psychische Verarbeitung des objektiven gesellschaftlichen Spannungsfeldes zwischen scheinbar "privater Familie und fremdbe­stimmter Arbeit ist, die hier als lediglich innerfamiliale Problematik in Erscheinung tritt.

Diese Zusammenhänge, die sich hinter den meist schweren subjektiven Konflikten verbergen, kann man eben nur mit einer psychologischen Konzeption erfassen, die die Vermittlung zwischen gesellschaftli­chem Prozeß und individueller Handlungs­fähigkeit oder Befindlichkeit in ihrer Grundbegrifflichkeit und ihren Verfahrens­weisen abzubilden vermag. Wir sind ja seit mindestens zehn Jahren dabei, subjektwissenschaftliche Denkweisen und Methoden, in denen solche Vermittlungen auf den ver­schiedensten Ebenen berücksichtigt werden können, zu erarbeiten.

PH: Inwiefern unterscheidet sich die Ent­wicklungstheorie der Kritischen Psychologie beispielsweise von der eines Psycholo­gen wie Jean Piaget? Gerade er hat doch auch das Wechselspiel zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Anpassung und Ver­änderung ins Zentrum seiner kognitiven Entwicklungstheorie gestellt. Sein Modell müßte doch vieles von dem, was Sie als Kritischer Psychologe fordern, enthalten.

Holzkamp: Piaget ist für unsere Theoriebildung sehr wichtig, und wir setzen uns sehr intensiv mit ihm auseinander. Aber Piaget sieht als Endzustand der Entwicklung, auf den hin er seine Stufen konzipiert, lediglich die Fähigkeit zu formal-logischem Denken. Unserer Auffassung nach ist das zu eng und deswegen schief. Erwachsensein in unserer Gesellschaft bedeutet die Fähigkeit, unter fremdbestimmten Bedingungen durch Be­teiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion sein eigenes Lehen erhalten zu kön­nen, also "Handlungsfähigkeit", wie wir sie fassen. Man muß den ontogenetischen Ent­wicklungsprozeß in seinen Gesetzen und Sequenzen so aufschlüsseln, daß er als "Ent­wicklung zur Handlungsfähigkeit" in diesem Sinne analysierbar wird.

In diesem Zusammenhang ist dann auch die kognitive Entwicklung als unselbständi­ges Teilmoment der Handlungsfähigkeits­entwicklung zu untersuchen. Dabei ist auch zu überprüfen, wieweit Piagets Formalstu­fen der kognitiven Entwicklung tatsächlich die individuelle Entwicklung der kognitiven Bewältigung (und Abwehr) der Anforde­rungen und Widersprüche handelnder Le­bensbewältigung in unserer Gesellschaft hinreichend erfassen.

PH: In Ihrer Schilderung der menschli­chen Entwicklungsgeschichte, der Phyloge­nese, gehen Sie davon aus, daß es irgendwann einmal einen qualitativen Sprung ge­geben hat, bei dem der Mensch bestimmte biologische und triebhafte Bestimmungen überwunden hat. Es ist in dem Augenblick geschehen, so meinen Sie, als er anfing, über seine Praxis zu reflektieren, als er sich bewußt wurde, daß er sich und seine Fähigkeiten reproduziert und in seinen Produk­ten wiederfindet. Aus einem triebhaften Wesen wird ein vernünftiges Wesen. Psy­choanalytiker wie Lorenzer machen Ihnen zum Vorwurf, daß Sie ab diesem Punkt nur noch Rationalist sind und das "Tier im Menschen", das ja noch heute in ihm drinstecke, verleugnen.

Holzkamp: So ist das nicht. In allen grundlegenden Büchern der Kritischen Psy­chologie wird der Phylogenese breiter Raum gegeben. Wir haben uns sicherlich nicht deswegen so intensiv mit der Phyloge­nese des Menschen beschäftigt, um dann nachher zu sagen: der Mensch ist nur ein gesellschaftliches Wesen. Uns geht es vielmehr darum, die natürlichen Voraussetzun­gen des Menschen adäquat zu bestimmen. Denn die sind wiederum die Voraussetzung für die gesellschaftliche Reproduktion. Na­türlich sind in der Kognition, Motivation, Emotionalität phylogenetisch gewordene unspezifische Voraussetzungen enthalten. Nur kann man diese nicht einfach als für den Menschen typisch unterstellen. Es gilt vielmehr, die neue Qualität herauszuarbeiten, in der solche Momente in Erscheinung tre­ten, wenn die Menschen ihr Leben nicht - wie die Tiere - in einer natürlichen Umwelt, sondern durch Produktion und Reproduktion ihrer Lebensbedingungen bestrei­ten: Die Natur des Menschen muß in ihrer Besonderheit als "gesellschaftliche Natur" analysierbar werden, es muß begreifbar werden, daß und wie der Mensch psychisch (kognitiv, motivational, emotional) bereit und in der Lage ist, sich durch Beteiligung am gesellschaftlichen Prozeß zu erhalten und zu entwickeln, mit all den Widersprüch­lichkeiten, die aus der jeweiligen gesell­schaftlichen Form entstehen. Dies schließt auch ein, das Verhältnis zwischen den mehr unspezifischen, elementaren, und den spe­zifischen Charakteristika des Psychischen beim Menschen samt den darin liegenden Widersprüchen herauszuarbeiten.

Dabei sind wir zum Beispiel darauf ge­kommen, daß hier die Sexualität eine Son­derstellung einnimmt. Die Voraussetzun­gen der sexuellen Befriedigung werden nämlich nicht, wie alle anderen Befriedi­gungsmöglichkeiten, durch Einsatz von Ar­beitsmitteln gesellschaftlich produziert. Zur sexuellen Befriedigung genügt das "unver­mittelte" Aufeinander-Bezogensein der Partner, im Minimalfall sogar die Bezie­hung zum eigenen Körper. Sexualität bleibt einem also, da nicht auf gesellschaftliche Vermittlung angewiesen, sozusagen immer als elementare Möglichkeit der Beglückung.

"Sexualität ist eine elementare Möglichkeit der Beglückung, da sie nicht auf gesellschaftliche Vermittlung angewiesen ist"

Deswegen ist sie auch den Herrschenden aller Zeiten immer besonders verdäch­tig gewesen, und Herrschaftsausübung war stets auch der Versuch der Sexualunter­drückung: Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Spaß haben könnte, wann und wo es ihm paßt?

So müssen also auch die in unserer Ge­sellschaft vorfindlichen Strategien, den Menschen ihre Sexualität zu beschränken oder zu vermiesen, ein zentrales Thema der subjektwissenschaftlichen Psychologie, auch der Analyse der kindlichen Entwick­lung sein, etwa, um herauszufinden, wie die Kinder dazu gebracht werden, Schuldgefüh­le zu entwickeln für etwas, das ihnen Freude macht und niemandem schadet: Das Ona­nieren.

PH: Wenn Sie also auch den biologischen Triebkräften, wie der Sexualität, so große Bedeutung einräumen: Gestehen Sie da nicht zu, daß Menschen irrational denken und handeln können?

Holzkamp: Man muß genauer zusehen, was hier "irrational" bedeuten soll. Es ist ja offensichtlich, daß die Menschen oft ihre Situation unzureichend durchschauen, blind reagieren, gegen ihre objektiven In­teressen handeln. Wenn ich ihr Verhalten aber deswegen als "irrational" in dem Sinne betrachte, daß sie schlechterdings keinen vernünftigen Grund für ihr Handeln haben, dann nehme ich ja an. daß sie total "unverständlich" sind, und zwar nicht nur wissen­schaftlich, sondern auch im sozialen Um­gang mit ihnen. Dies heißt aber, daß ich hier nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, son­dern auch soziale Beziehungen für unmög­lich halten muß. Damit habe ich den ande­ren eigentlich aus der menschlichen Ge­meinschaft ausgegrenzt und damit letztlich auch mich aufgegeben, da ich ohne die Beziehung zum anderen nicht leben kann.

Wir haben mit unseren Begriffen und Verfahren aufweisbar zu machen versucht, daß scheinbar unverständliches und "irra­tionales" Verhalten, wenn man genau hin­sieht, sich stets als "rationales" Verhalten bei reduziertem Realitätsbezug erweist: Der andere handelt in seiner Situation, wie er sie sieht, vernünftig, subjektiv in seinem Interesse, nur wendet sich, da seine Prämis­sen unzureichend sind, sein subjektiv ver­nünftiges Verhalten objektiv gegen ihn. Man darf sich also hier niemals mit dem Diktum "irrational" begnügen, sondern muß immer, sozusagen bei Strafe des Unter­gangs, versuchen, den anderen zu verste­hen, indem man die Prämissen zu finden bemüht ist, unter denen ihm sein Verhalten als vernünftig erscheinen muß - und dann mit ihm über die Prämissen diskutieren. Ein solcher Kampf um die Rekonstruktion von Vernunft als einziger Voraussetzung zwischenmenschlichen Verstehens ist auf allen Ebenen unsere einzige Chance, zu leben und zu überleben.

Mit dieser Auffassung finde ich mich übrigens in illustrer Gesellschaft. Freud hat nämlich einmal folgendes geschrieben:

"... die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf... auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts wi­derstehen."

­(Mit Klaus Holzkamp sprachen Heiko Ernst und Claus Koch)

Literatur

Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. (Campus) 1983

Holzkamp-Osterkamp, Ute: "Ausländerfeindlichkeit". Zur Funktion ihrer Psychologisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik 8, 1984

Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit (SUFKI): Theoretische Grundlage und methodische Entwicklung der Projektarbeit. Vortrag, gehalten auf dem 3. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie in Marburg am 12.5.1984. Forum Kritische Psychologie 14, 1984

Dreier, Ole: Familiäres Sein und familiäres Bewußtsein. Therapeutische Analyse einer Arbeiterfamilie. Frankfurt/M. (Campus) 1980

Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke (S. Fischer) Bd. XIV (Zitat auf S. 377 und 378)

 

www.Gesellschaft-und-Visionen.de

 

 
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