Gedanken, die größtmöglichste Einheit zu schaffen
Klaus Buschendorf
Die heutige soziale Bewegung steht vor dem Problem, dass es viele kleine „Netzwerke“ gibt, die sich nicht auf gemeinsame Standpunkte einigen können und deshalb getrennt agieren (und manchmal fast feindlich untereinander sind). Wir sollten deshalb nach dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ suchen und von dort aus uns bemühen, das Problem zu lösen.
Unsere Gesellschaft ist heute so aufgebaut, dass 10% der Bevölkerung über 50% des Volksvermögens verfügen. Das sind Superreiche, die in der Einkommenspyramide ganz oben stehen. Damit sind sie aufgrund des herrschenden Geldsystems die faktisch Regierenden über die restlichen 90%. Ihr Vermögen gestattet ihnen, diese Herrschaft auszuüben. Die jeweilige Regierungsform ist dabei gleichgültig. Am besten lässt sich in Europa diese Herrschaft durch die westliche Demokratieform tarnen, die mit den Begriffen der Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz den restlichen 90% etwas vorgaukelt. Die Mittel dazu sind die Massenmedien und ihr verwirrender Umgang mit Sprache und Bild. Man muss auch das Bildungssystem zu diesen Mitteln rechnen. Die Selektion in deutschen Schulen nach dem Geldbeutel der Eltern ist aus Sicht der Herrschenden nicht beklagenswert, sondern absichtlich. Die breite Masse der Menschen wird so aufnahmefähig gemacht für die Propagandaformen der Massenmedien. Warum also sollten die heute Herrschenden (nicht zu verwechseln mit den Regierenden) daran etwas ändern wollen?
Gehen wir also davon aus, dass heute 10% der Bevölkerung 90% gegenüber stehen. Das Problem für uns ist: Diese 90% wissen das nicht oder nur zu geringen Teilen.
Wie üben diese 10% die Herrschaft aus? Sie tun es über das Geldsystem des Kapitalismus. Kaum einer der heute lebenden Menschen kennt ein anderes. Darum erscheint es dem einfachen Bürger als das einzig mögliche. Er jammert und meckert darüber, hält es aber für sinnlos, etwas dagegen zu tun. Im Osten kommt die negative Erfahrung hinzu, dass selbst „die friedliche Revolution von 1989“ nur Wenigen Nutzen brachte. Perspektiven, dass sich die Gesellschaft langfristig ändern könne, werden von den meisten Menschen nicht gesehen.
Menschen aus intellektuellen Kreisen mit Einsicht in solche Zusammenhänge wollen deshalb das Geldsystem ändern. Die Einführung von „Regiogeld“ ist ein solcher Versuch. Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Das heutige Geldsystem wurde von Menschen eingeführt, die vermittels des Geldes herrschen wollen. Heute verfügen sie über genügend Macht, dieses System zu verteidigen. Man wird Versuche mit „Regiogeld“ dulden, um die Aktivisten damit „totlaufen“ zu lassen. Bei einer wirklichen Gefahr für das System werden solche Versuche unterbunden.
Wie ein guter Arzt nicht hauptsächlich die Symptome, sondern die Ursachen einer Krankheit behandelt, müssen wir die Ursachen unserer heutigen gesellschaftlichen Situation bei den Menschen suchen. Das sind diese 10% der höchsten Einkommensgruppe. Daraus ergibt sich umgekehrt der Schluss, dass potentiell 90% aller Menschen unsere Verbündete sein könnten! Welche Schwierigkeiten erwarten uns, diese 90% für uns zu gewinnen?
Es sind ganz einfache, menschliche Verhaltensweisen, die das Herrschaftssystem jener 10% begünstigen. Der Mensch ist gewohnt, sich an Vorbildern auszurichten. Die Massenmedien vermitteln Vorbilder vor allem aus dem Kreis der Besitzenden. So richtet sich in der Einkommenspyramide jeder Einzelne an der nächsten, höheren Einkommensschicht aus. Damit entsteht ein Automatismus: Je höher der Einzelne in der Einkommenspyramide zu stehen glaubt, desto mehr fühlt er sich von der nächsten, höheren Schicht angezogen. Er denkt wie diese, fühlt wie diese – und die Massenmedien tun alles, dass er seine eigenen Mängel gegenüber dieser höher stehenden als Mängel „seiner eigenen Tüchtigkeit“ begreifen soll. Dieses Bild ist natürlich falsch. Doch ständiges Wiederholen macht auch Lügen glaubhafter – und an Wiederholungen ist beispielsweise durch Vorabendserien im Fernsehen kein Mangel.
So wird dem einfachen Bürger vorgegaukelt, dass jeder „seines eigenen Glückes Schmied“ sei, wenn er nur genügend tüchtig ist. Einzelne Beispiele, wie das Leben von Bill Gates in den USA, die ALDI-Brüder in Deutschland, scheinen diese These zu stützen. Dass solche Ausnahmen niemals die Perspektiven vieler Menschen sein können, wird tunlichst verschwiegen, um Fatalismus bei den Menschen „von innen heraus“ wachsen zu lassen.
Wie nun gegen diese Situation angehen? Wir haben ein mächtiges Instrument in unserem Rücken, von dem kaum jemand praktischen Gebrauch macht. Nur bei Festreden wird manchmal daran erinnert. Es ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Für uns als Protestbewegung halte ich dabei die Artikel 1 und 14 als die zentralen Punkte, mit denen in den Köpfen der Menschen etwas zu bewegen ist.
Zunächst zu Artikel 1(1): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Man könnte auch formulieren: Die Staatsgewalt hat die Würde des einfachen Bürgers zu schützen. Denn in unserer gesellschaftlichen Struktur ist die Würde des Menschen praktisch nach der Einkommenspyramide gestaffelt, getreu dem Sprichwort: „Hast du was, bist du was.“ Der Staat hat die Ärmsten in Schutz zu nehmen vor den Reichsten. Die braucht er nicht schützen, sie können das allein. Diese Aufgabe erfüllt der Staat BRD nicht. Er hat sich spätestens mit der AGENDA 2010 auf die Seite der Reichen geschlagen.
Nun wäre die Schlussfolgerung falsch, den Staat abschaffen zu wollen. Der Staat ist die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er geht nicht abzuschaffen. Man kann ihn nur verändern. Augenblicklich wollen die Neoliberalen den Eindruck vermitteln, dass es der Staat sei, der den Bürger knechtet. Deshalb müsse man privatisieren. In Wahrheit ist es der von jenen 10% beherrschte Staat, der das tut, nicht der Staat an sich. Die soziale Protestbewegung sollte also als Ziel formulieren, dass sich der Staat ihrem Willen fügen und den Menschen zu dienen habe – und klar bekennen, dass ihre Ziele gegen die Ziele jener 10% gerichtet sind, die dem Staat heute ihren Stempel aufdrücken.
Das ist meine Folgerung aus dem Umgang mit dem Artikel 1 für die soziale Protestbewegung.
Und Artikel 14? (1) „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Er richtet sich an Eigentümer, große wie kleine. Kapital ist Eigentum. Es hat der Allgemeinheit zu dienen. Die Rolle des Staates wird nicht ausdrücklich erwähnt. Doch es kann kein Zufall sein, dass nachfolgende Absätze und Artikel von der „Sozialisierung“ handeln, also der Enteignung von Eigentümern. Das Grundgesetz der BRD hat die Möglichkeit vorgesehen, Eigentümer (hier können nur große Eigentümer gemeint sein) zu enteignen, wenn sie dem Artikel 14 nicht folgen. Was aber hören wir heute von Massenmedien? Kapital sei „ein scheues Reh“, das flüchtet, wenn es sich woanders besser „vermarkten“ kann. Hier sehen wir, wie der Umgang mit der Sprache verwirrt und entstellt. Kapital ist abstrakt gebraucht, hat einen Eigentümer. Das Wort dafür ist „Kapitalist“. Wo lesen wir dies Wort heute in der Presse? Es ist fast tabu. Sprechen wir richtig: Der „Kapitalist“ ist ein scheues Reh. Nun kommen wir viel leichter zu der Folgerung: Der Staat hat dem „scheuen Reh“, dem Kapitalisten, die Grenze für die „Vermarktung“ zu setzen, wenn der Kapitalist „dem Wohle der Allgemeinheit“ nicht dient! Dazu gibt ihm das Grundgesetz in den folgenden Sätzen die Machtmittel.
Es ist klar, dass der heute von jenen 10% beherrschte Staat so nicht handelt und die Massenmedien so nicht reden. Reden wir davon! Denn das Grundgesetz gilt für alle Menschen, auch für die Kapitalisten! Wir weisen sie zunächst auf ihre grundgesetzlichen Pflichten hin. Erfüllen sie diese nicht, ist es unsere Aufgabe, den Menschen diese Zusammenhänge zu erläutern – wieder und wieder, wie es uns die Massenmedien für die andere Seite vormachen!
Nicht wir, die sozial Benachteiligten der Gesellschaft, dürften die Gewalt des Staates erfahren in Form der AGENDA 2010. Die Kapitalbesitzer, die „Kapitalisten“ (verwenden wir dieses Wort, um sie klar zu beschreiben), verstoßen gegen das Grundgesetz. Wir sind es, die dasGrundgesetz praktisch umsetzen wollen mit unserem Widerstand – „zum Wohle der Allgemeinheit“.
Ich glaube, dies könnte der „kleinste gemeinsame Nenner“ sein. Er löst beileibe nicht alle unsere Probleme. Er ist aber der Ausgangspunkt, der Haken, von dem wir die anderen Konflikte unter uns gleichsam „aufdröseln“ könnten.
12.10.2007 |