Zur Internet-Ausgabe der Unterhaltungen über den Sozialismus
(Neues überarbeitetes Vorwort 2005)
Als wir zur Bundestagswahl 2002 die Sozialismusgespräche des InkriT der Öffentlichkeit übergaben, taten wir dies in der Überzeugung, dass sie »über Anlass und Moment, auch über die Landesgrenzen hinaus ein Dokument des Nachdenkens und der Orientierung darstellen«, wie es im Vorwort heißt. Während die Regierung Schröder damals eine zweite Bewährungsfrist erhalten hat, ist sie inzwischen an ihrer Hauptfront, der Arbeitspolitik, gescheitert. Nun, da ihr Scheitern das Tor dazu aufgestoßen hat, eine sozialistische Linkspartei in Deutschland zu verankern, sind die Gespräche aktueller als zuvor. Diese geschichtliche Chance, heißt es im Vorwort, würde sich den Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern verdanken, ihre Realisierung aber sich im Westen entscheiden. Genau so ist es gekommen. Die ungleichen Linkskräfte aus dem Westen und aus dem Osten schicken sich an, über ihren jeweiligen Schatten zu springen und eine gesamtdeutsche Kraft links von der SPD zu etablieren. Die bloße Aussicht darauf hat genügt, die etablierten Parteien aufzustören und in eine Allparteienkoalition der Hetze zumal gegen den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine zu verwandeln, während sich ihre Rhetorik etwas sozialer gibt, um der neuen Linkskraft Wind aus den Segeln zu nehmen. In dieser Situation scheint es uns angebracht, die Unterhaltungen ins Netz und damit dem allgemeinen Zugriff zur Verfügung zu stellen, da sie die Existenzbedingungen und Handlungsmöglichkeiten einer neuen Linkspartei konzentriert zur Sprache bringen.1
Die Verhältnisse haben inzwischen dafür gesorgt, dass so manche der in den Gesprächen geleisteten Abschätzungen heraufziehender und zunehmend virulent werdender Konfliktlinien und Krisenzonen weithin zum Gemeingut geworden ist. Doch die Fähigkeit zum »Operierenkönnen mit Antinomien« (Brecht), auf die wir den methodischen Hauptakzent gelegt haben, könnte schon bald auf die Probe gestellt werden angesichts der Differenz linkskeynesianischer Orientierungen und der radikaleren Suche nach neuen Formen solidarischer Vergesellschaftung. Es wird sich herausstellen, dass es kein Zurück zur Epoche des Fließbands mit den sozialen Errungenschaften ihrer gewerkschaftlichen Kämpfe gibt und dass die neuen Lösungen auf Grundlage der hochtechnologischen Produktionsweise gesucht werden müssen. Das heißt freilich nicht, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen aufzugeben wären, die nicht nur mit der sozialistischen Gleichheitskonzeption, sondern auch mit der redistributiven Funktion des demokratischen Staates verbunden sind. Ihnen erneut zum Zuge zu verhelfen ist der Einsatz linker Politik.
Wie damals machen wir uns auch heute, angesichts der sich abzeichnenden Linksformation, nicht die Illusion, es sei plötzlich eine neue Ära mit einem neuen Geschichtssubjekt angebrochen. Dass viele unserer Vorschläge weiterhin der Realität vorauseilen, spricht nicht gegen sie, solange die Politik hinter den Notwendigkeiten herhinkt. Fürs Erste steht zu hoffen, dass sie gleichwohl dazu beitragen, den für linke Politik lebenswichtigen Sinn für die Dialektik von Nah- und Fernzielen zu stärken.
Dem Gespür der Linken dafür wächst in den kommenden Kampagnen entscheidende Bedeutung zu. Denn hinter der Legitimationskrise der rot-grünen Regierung lauert die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie. Dass an der Schwelle zu den Neuwahlen von 2005 ganze 85 Prozent der Deutschen wenig oder gar kein Vertrauen zur Bundesregierung haben und 78 Prozent ebenso wenig zur Opposition, bezeugt »eine Krise des Vertrauens in das politische System insgesamt«2. Der Anteil derer, die auf den Bundestag bauen, ist seit 1991 von 51 auf 19 Prozent gefallen; 82 Prozent sehen Deutschland »in der Krise, es muss sich unbedingt etwas ändern«3. Zunächst profitieren noch die Konservativen – die freilich im Gegensatz zu dieser Bezeichnung nicht konservieren, sondern die neoliberale Revolution gegen den Sozialstaat weiter radikalisieren. Da sich jedoch die Basisdeterminanten der Arbeitslosigkeit nicht ändern werden und »die Bourgeoisie«, wie Karl Marx im Manifest schreibt, sich als zunehmend unfähig erweist, »ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden« (MEW 4, 473), wird dahinter die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie hervortreten. Von ihr droht die extreme Rechte zu profitieren.
Die Dialektik von Nah- und Fernzielen wartet unter solchen Bedingungen mit einer Überraschung auf: Das Fernste ist das Nächstliegende. Um der Demokratie willen muss die Linke bestrebt sein, die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie in die Legitimationskrise des Kapitalismus überführen. Weil – noch! – keine Alternative zum Kapitalismus im Ganzen in Sicht ist, werden vielfältige Formen von Solidarökonomie, die den Kapitalismus vorgreifend im Einzelnen überschreiten, zur Tagesaufgabe.
Wolfgang Fritz Haug, 6. August 2005
Quelle: http://www.hkwm.de/inkrit/framu/unterhaltungen.htm