Vorwort
Dass wir arbeiten müssen, um zu leben, dürften viele von uns für eine vielleicht zwar lästige, aber doch notwendige Bedingung des Daseins halten. Wie sonst, wenn nicht durch Arbeit, sollten wir uns all die vielen Dinge, die wir zum Leben benötigen, verschaffen?
So scheinen die Menschen schon immer gedacht zu haben. In der Geschichte finden sich zahlreiche Hinweise, dass Arbeit auch früher schon als grundlegende Bedingung für den Besitz und den Genuss lebensnotwendiger Güter betrachtet worden ist. Bereits auf babylonischen Schrifttafeln finden sich Regeln, die das Dasein der Menschen an Arbeit knüpfen und im Neuen Testament steht im zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher der berühmte Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”. Noch Kapitän John Smith, der Anführer der ersten englischen Niederlassung in Amerika, hat mit diesem Grundsatz die frühen amerikanischen Siedler zum arbeiten angehalten. Auch die erste Sowjetische Verfassung aus dem Jahr 1918 beruft sich – so seltsam dies klingen mag – auf das Paulus-Zitat und hält fest, dass im Sozialismus nur diejenigen mit Lebensnotwendigem versorgt werden sollen, die arbeiten. Und auch die moderne Wohlfahrtsgesellschaft geht im wesentlichen noch davon aus, dass Einkommen, sprich die für viele Zeitgenossen entscheidende Lebensgrundlage, nur für den Gegenwert von Arbeit bezahlt werden sollen.
Trotzdem kennen wir alle natürlich auch Situationen, in denen wir leben ohne zu arbeiten. Abgesehen von den Ruhepausen während der Arbeit oder den in der Moderne immer länger werdenden Phasen der Freizeit nach getaner Arbeit haben sich die Menschen schon früh auch grundsätzliche Ausnahmen von der Regel „Nur wer arbeitet, soll auch essen” erlaubt. Bereits einfache Gesellschaftsformen, sowohl menschliche wie auch tierische, sehen etwa die Mitversorgung von Kindern, Alten und Behinderten vor, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten können. Und schon in der Antike wurden Arbeitsprodukte auch jenseits familiärer Bindungen regelmäßig an Gesellschaftsmitglieder verteilt, die nicht unmittelbar an ihrer Erzeugung beteiligt waren. Die christliche wie auch später dann die sozialistische Weltanschauung bauen wesentlich auf diesem Umstand auf. Und noch John Smith hat die Paulus-Regel „Nur wer arbeitet, soll auch essen” bekanntlich jenen Aristokraten unter den Kolonisten entgegengehalten, die, weil sie zuvor in ihrer alten Heimat gelebt hatten ohne zu arbeiten, nicht einsehen wollten, dass ihre Arbeitskraft nun in der Neuen Welt plötzlich gefragt war.
Besonders in modernen Gesellschaften, in denen unter Arbeit in der Regel Lohnarbeit verstanden wird, bestehen verschiedenste Möglichkeiten, ein Auskommen auch ohne Arbeit zu finden. Auf der einen Seite sorgt hier oftmals ein mehr oder weniger üppiges soziales Netz dafür, dass auch nichtarbeitende Gesellschaftsmitglieder bis zu einem bestimmten Grad am gesellschaftlich produzierten Wohlstand teilhaben können. Zum anderen leben viele unserer Zeitgenossen auch etwa aufgrund von Erbschaften oder von Zinsen und Dividenden aus Güter- oder Kapitalbesitzen schon recht komfortabel, ohne dem nachgehen zu müssen, was allgemein als Arbeit bezeichnet wird. Leben scheint demnach doch nicht so grundsätzlich an Arbeit, zumindest nicht an Lohnarbeit, gebunden zu sein, wie dies historische Normenkodizes festschreiben und wie dies auch heute noch als grundlegende Prämisse der aktuellen Arbeits- und Sozialpolitik angesehen wird.
Trotzdem werden solche Möglichkeiten zu leben ohne zu arbeiten auch in der modernen Gesellschaft eher als Ausnahmen, denn als Regel betrachtet. Als Ausnahmen nämlich vom angenommenen Normalfall des Normalarbeitsverhältnisses unter Bedingungen der Vollbeschäftigung. Unter Bedingungen also, unter denen alle arbeitsfähigen Gesellschaftsmitglieder Arbeit finden, weil es genügend passende Arbeitsplätze für alle gibt. Normalarbeitsverhältnis und Vollbeschäftigung gelten, anders gesagt, in unserer Gesellschaft als Richtgrößen, an denen sich der Arbeitsmarkt und sein soziales Sicherheitsnetz, wie auch die meisten politischen Reformvorschläge dazu, orientieren. Normalarbeitsverhältnis und Vollbeschäftigung bestimmen heute, so könnte man sagen, die Perspektive der Gesellschaft auf ihre Arbeit.
Und dies, obwohl die moderne Arbeit, die Lohnarbeit, längst eine Reihe von Arbeits- und Tätigkeitsformen hervorgebracht hat, die sich in keiner Weise mehr unter den Kategorien Normalarbeitsverhältnis und Vollbeschäftigung einordnen lassen. Die Arbeitsgesellschaft hat sich im Zuge ihrer Entwicklung längst über die klassische und historisch so folgenreiche Polarisierung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinaus differenziert und hat mittlerweile auch die vielschichtigen Identitäten der Arbeitslosen, der geringfügig Beschäftigten, der Teilzeitarbeiter, der Scheinselbständigen und Niedriglohnarbeiter einerseits, und die der Fixangestellten, gewerkschaftlich Vertretenen oder Pragmatisierten andererseits hervorgebracht. Das Normalarbeitsverhältnis stellt damit nur mehr für einen Teil der Gesellschaft ein tatsächlich normales Arbeitsverhältnis dar. Für den Rest der prekarisierten Arbeitenden und Nichtarbeitenden herrschen dagegen heute sehr unterschiedliche Chancen, ihr Ein- und Auskommen regelmäßig durch Arbeit zu sichern. Viele müssen sich beispielsweise ohne jegliche Garantien oder Tarifvereinbarungen am freien Markt anbieten und bringen sich so in der Konkurrenz, die sie sich gegenseitig bereiten, vollends um jegliche Chance auf halbwegs angemessene Löhne und Arbeitszeiten. Andere hasten beständig von einem Niedriglohnjob zum anderen und finden trotzdem kein hinreichendes Auskommen mehr. Und wieder andere sehen sich vom modernen Arbeitsmarkt überhaupt ausgeschlossen und resignieren vor den Fallen, die die bestehende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ihnen stellt, und vor den Vorwürfen der Faulheit und des Parasitentums, die ihnen die Gesellschaft macht.
Für diese Gruppe der vom Normalarbeitsverhältnis ausgeschlossenen, prekarisierten Arbeitenden und Nichtarbeitenden ist die Selbstverständlichkeit, mit der Arbeit in unserer Gesellschaft nach wie vor als alleinige Voraussetzung für Ein- und Auskommen betrachtet wird, längst problematisch geworden. Für sie sind die Chancen, ihr Leben über Arbeit zu sichern, zu zufällig in der Gesellschaft verteilt. Aus ihrer Sicht liegt es daher nahe zu fragen, ob die Mittel, die in der Moderne für viele die wesentliche Grundlage des Daseins darstellen, nämlich die Einkommen, auch weiterhin ausschließlich von Arbeit abhängen sollen.
Diese Frage wird im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. Das vorliegende Buch gliedert sich diesbezüglich in zwei große Teile, von denen der erste das Phänomen der Arbeit und verschiedenste Probleme, die sich durch Arbeit für die moderne Gesellschaft ergeben, sowie einige Lösungsversuche dazu, näher betrachtet. Im Mittelpunkt wird dabei die Lohnarbeit stehen, der allerdings ein sehr grundsätzlicher, konstruktivistischer Begriff allgemeiner Arbeit zugrunde gelegt wird, von dem her sich eine, wie ich meine, neue und möglicherweise recht fruchtbare Perspektive auf den Phänomenbereich der menschlichen Arbeit ergibt. Unter anderem wird aus dieser Perspektive sichtbar, dass die menschliche Arbeit im Lauf der Geschichte keineswegs weniger wird, dass also in keinem Fall von einem „Ende der Arbeit” gesprochen werden kann, wie dies auch in den Diskussionen um das Grundeinkommen immer wieder getan wurde. Die Arbeit wird – das mag überraschen – im Zuge des Arbeitsprozesses immer mehr. Gerade dieser Umstand liefert aber, wie wir sehen werden, den eigentlichen Grund dafür, warum die Einkommen längst grundsätzlich von der Arbeit abgekoppelt werden sollten.
Darüber hinaus legt die hier eingenommene Perspektive eine Position jenseits gängiger politischer Orientierungen, jenseits also von Links und Rechts nahe, von der her die Diskussion um den traditionell heiß umkämpften und damit stark emotionalisierten Phänomenbereich gesellschaftlicher Arbeit die Chance erhalten könnte, neue und wohl dringend benötigte Anschlussmöglichkeiten zu finden.
Der zweite Teil des vorliegenden Buches wird sodann eine sozialpolitische Idee ins Auge fassen, mit deren Verwirklichung die grundlegende Trennung von Arbeit und Einkommen vollzogen würde: nämlich die Idee des Garantierten Grundeinkommens. Diese Idee wird unter Berücksichtigung der aktuellen Diskussionen sowohl in bezug auf ihre Geschichte, ihre philosophischen Grundlagen, ihre mögliche Bedeutung für Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Gesellschaft, ihre Finanzierbarkeit und ihre politische Machbarkeit ausführlich diskutiert werden.
Allerdings – und dies sei gleich vorweg erwähnt – wird diese Idee hier nicht bedingungslos als Allheilmittel für die Probleme moderner Arbeitsmärkte gepriesen oder als alleiniges Telos jeder künftigen Sozialpolitik propagiert. Zu deutlich kann in der modernen Gesellschaft – etwa angesichts der Folgen früherer sozialpolitischer Großexperimente, allen voran denen des Kommunismus – gesehen werden, wie problematisch tiefgreifende sozialpolitische Reformen sein können, um zu übersehen, dass auch die Einführung eines garantierten Grundeinkommens – so gute Gründe auch dafür sprechen mögen – eine Vielzahl von Fragen und Problemen aufwerfen muss, die nur durch neuerliche, und dann möglicherweise wieder ganz anders geartete Reformkonzepte zu lösen sein werden. Die Frage nach der Möglichkeit der Trennung von Arbeit und Einkommen durch ein garantiertes Grundeinkommen soll hier gleichsam als regulative Idee im Kantischen Sinn diskutiert werden, die kommenden Diskussionen und sozialpolitischen Maßnahmen Orientierungshilfen und Denkanstöße geben will, auf dass unser Leben auch in Zukunft, und unabhängig von Arbeit, lebenswerter werden kann. |