Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg
Vorwort
Michel Chossudovsky: Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg. Das Vorwort. Der 11. September. Das Buch gibt es nur bei Zweitausendeins.
Nach den tragischen Ereignissen des 11. September haben sich die USA mit einer gewaltigen Demonstration militärischer Macht in ein kriegerisches Abenteuer gestürzt, das die Zukunft der Menschheit bedroht. Nur wenige Stunden nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center und das Pentagon wurden Osama Bin Laden und seine al-Qaida-Organisation ohne Beweise als "Hauptverdächtige" identifiziert.
Außenminister Colin Powell nannte die Angriffe "einen Akt des Krieges", Präsident George W. Bush bekräftigte in einer Fernsehansprache an die Nation am selben Abend, dass er "keinen Unterschied zwischen den Terroristen" machen würde, "die diese Taten begangen haben, und den ausländischen Regierungen, die ihnen Unterschlupf gewähren".
Der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey wies auf die "staatliche Unterstützung" der Terroristen durch eine oder mehrere ausländische Regierungen hin. "Ich glaube", so sagte der ehemalige nationale Sicherheitsberater Lawrence Eagleburger, "wir werden, nachdem wir in dieser Weise angegriffen worden sind, unsere ganze Stärke demonstrieren und furchtbare Vergeltung üben."
In der Zwischenzeit plapperten die westlichen Medien die offiziellen Verlautbarungen nach und stimmten "Strafaktionen" gegen zivile Ziele in Zentralasien und dem Nahen Osten zu: "Wenn wir die Stützpunkte und Lager unserer Angreifer hinlänglich aufgeklärt haben, müssen wir sie in Schutt und Asche legen und das Gastland der Terroristen offen oder verdeckt destabilisieren – unter Minimierung, aber Inkaufnahme von Kollateralschäden."
Der Öffentlichkeit als "Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" präsentiert, dient der Einsatz der amerikanischen Kriegsmaschine in Wahrheit jedoch der Ausweitung der amerikanischen Einflusssphäre nicht nur in Zentralasien und im Nahen Osten, sondern auch auf dem indischen Subkontinent und in Fernost. Die USA sind zudem darauf aus, eine dauerhafte militärische Präsenz in Afghanistan zu etablieren, das eine strategische Position an der Grenze zur früheren Sowjetunion, zu China und dem Iran einnimmt. Afghanistan liegt außerdem in unmittelbarer Nähe von fünf Atommächten: Russland, China, Indien, Pakistan und Kasachstan.
Dieser Krieg findet statt auf der Höhe einer globalen Wirtschaftskrise, die gekennzeichnet ist vom Niedergang staatlicher Institutionen, von wachsender Arbeitslosigkeit, dem Zusammenbruch des Lebensstandards in allen großen Weltregionen einschließlich Westeuropas und Nordamerikas und dem Ausbruch von Hungersnöten in weiten Teilen der Welt. Diese Krise ist weit gravierender als jene der 30er Jahre.
Darüber hinaus führt der Krieg nicht nur zur massiven Verlagerung der Wirtschaftstätigkeit vom zivilen Sektor in den militärisch-industriellen Komplex, er beschleunigt auch die Beseitigung des Wohlfahrtsstaates in den westlichen Ländern.
Krieg und Globalisierung stehen in enger Beziehung. Die globale Wirtschaftskrise, die den Ereignissen vom 11. September vorausging, hat ihre Wurzeln in den "Marktreformen" der Neuen Weltordnung. Seit der Asienkrise 1997 sind die Finanzmärkte eingebrochen, eine Volkswirtschaft nach der anderen geriet in eine tiefe Wirtschaftskrise, ganze Länder wie Argentinien und die Türkei wurden von ihren internationalen Gläubigern übernommen, wodurch Millionen von Menschen in elende Armut gestürzt wurden.
Die Krise nach dem 11. September kündigt in vieler Hinsicht das Ende der westlichen Sozialdemokratie und das Ende einer Ära an. Die Legitimität des globalen Systems "freier" Märkte ist gestärkt und hat einer neuen Welle von Deregulierungen und Privatisierungen Tür und Tor geöffnet. Das wird schließlich zur privatwirtschaftlichen Übernahme aller öffentlichen Dienstleistungen und der staatlichen Infrastrukturen führen, einschließlich der Elektrizität, der kommunalen Wasserversorgung und Kanalisation, der Autobahnen usw.
Darüber hinaus wurde besonders in den USA und in Großbritannien, aber auch in den meisten Ländern der Europäischen Union (EU) das Rechtssystem verändert. Der Rechtsstaat wurde außer Kraft gesetzt und die Fundamente für einen autoritären Staat gelegt, ohne dass die wichtigsten Stützen der Zivilgesellschaft dagegen in nennenswertem Umfang opponiert hätten. Ohne jede Debatte wird der "Krieg gegen den Terrorismus" gegen die so genannten "Schurkenstaaten" als notwendig erachtet, um die Demokratie zu "schützen" und die innere Sicherheit zu stärken.
Statt nach den geschichtlichen Gründen des Krieges zu suchen, beschränkt man sich auf bloße Parolen wie den "Kampf gegen das Böse" und die "Jagd auf Osama Bin Laden". Solche Verkürzungen und Entstellungen sind Teil einer sorgfältig geplanten Propagandakampagne. Die Ideologie der "Schurkenstaaten", die das Pentagon bereits während des Golfkrieges 1991 entwickelte, dient als Rechtfertigung, um aus "humanitären Gründen" Krieg gegen Länder zu führen, die sich nicht der Neuen Weltordnung und den Grundannahmen des Systems "freier" Märkte fügen.
Seit dem Amtsantritt von George W. Bush haben Militär und Geheimdienste in enger Abstimmung mit der Wall Street erkennbar die Zügel der Außenpolitik übernommen. Da die Entscheidungen hinter den verschlossenen Türen der CIA und des Pentagons fallen, verkommen die zivilen politischen Institutionen der USA einschließlich des Kongresses immer mehr zur Fassade. Während in den Augen der Öffentlichkeit weiter die Illusion einer funktionierenden Demokratie vorherrscht, ist der US-Präsident zu einer bloßen Kühlerfigur geworden.
Noch im Herbst 1999, also im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfes, demonstrierte der Gouverneur Bush in außenpolitischen Belangen weitgehende Ahnungslosigkeit: "In zu vielen politischen Fragen, besonders jenen globalerer Natur, klingt Bush häufig, als läse er vom Spickzettel ab. Wagt er sich an internationale Themen, ist seine Unvertrautheit mit Händen zu greifen, und selbst sein unerschütterliches Selbstvertrauen schützt ihn nicht davor, Fehler zu machen."
Und als ihn ein Journalist im Sommer 2000 fragte, was er über die Taliban denke, "zuckte er nur ratlos die Schultern. Der Journalist musste ein bisschen nachhelfen (&Mac221;Diskriminierung gegen Frauen in Afghanistan&Mac220;), damit Bush wach wurde: &Mac221;Die Taliban in Afghanistan! Natürlich. Repressalien. Ich dachte, Sie sprechen über irgendeine Rockgruppe.&Mac220; So gut informiert über das Ausland ist also der mögliche künftige US-Präsident."
Wer entscheidet in Washington? Angesichts einer großen militärischen Operation, die Auswirkungen auf unser aller Zukunft und die globale Sicherheit hat – ganz zu schweigen vom Einsatz von Atomwaffen –, ist diese Frage von höchster Bedeutung. Übt der Präsident, abgesehen von sorgfältig eingeübten Reden, wirkliche politische Macht aus, oder ist er nur ein Werkzeug?
Unter der Neuen Weltordnung bestimmen die Militärplaner des Außenministeriums, des Pentagons und der CIA die Außenpolitik der USA. Sie unterhalten auch Kontakte zu Vertretern des IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO). Die internationale Finanzbürokratie in Wa-shington wiederum, verantwortlich für die mörderischen Wirtschaftsreformen, die sie der Dritten Welt und den meisten Ländern des ehemaligen Ostblocks aufzwingt, pflegt enge Beziehungen zum Finanzestablishment der Wall Street.
Die Mächte hinter diesem System sind die globalen Banken und Finanzorganisationen, der militärisch-industrielle Komplex, die Öl- und Energiegiganten, die Biotech-Konzerne sowie mächtige Medien- und Kommunikationsunternehmen mit ihren gefälschten Nachrichten und offenkundigen Verzerrungen der Weltereignisse.
Unter der Reagan-Regierung verwandten hochrangige Vertreter des Außenministeriums Erlöse aus dem illegalen Drogenhandel dazu, Waffenlieferungen an die Contras in Nicaragua zu finanzieren. Es ist bittere Ironie, dass diese Verantwortlichen für die "Iran-Contragate"-Affäre heute Schlüsselpositionen im engen Führungskreis um George W. Bush bekleiden.
"Bush hat sich Leute aus den zwielichtigsten Teilen der Republikanischen Partei der 80er Jahre auserkoren, jene, die an der Iran-Contra-Affäre beteiligt waren. Seine erste diesbezügliche Ernennung, die von Richard Armitage als stellvertretender Außenminister, passierte im März ohne Aufsehen per Akklamation den Senat.
Armitage diente in den Reagan-Jahren als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, zuständig für internationale Sicherheitsfragen, aber seine erneute Ernennung 1989 durch die Administration von George Bush wurde aufgrund von Kontroversen über die Iran-Contra-Affäre und andere Skandale zurückgezogen. Nach der Ernennung von Armitage berief Bush Junior Elliot Abrahms, Staatssekretär im Außenministerium unter Reagan, in den Nationalen Sicherheitsrat, zuständig für Demokratie, Menschenrechte und internationale Operationen, ein Posten, dessen Besetzung vom Senat nicht gebilligt werden muss. Abrahms hatte zugegeben, in den Anhörungen über die Iran-Contra-Affäre zweimal den Kongress belogen zu haben, wurde aber später von George W. Bush begnadigt."
Armitage war auch während des Afghanistankrieges der Sowjets und danach einer der Hauptarchitekten hinter der verdeckten, mithilfe des Drogenhandels finanzierten Unterstützung der Mudschaheddin und der militanten Islamisten. Daran hat sich nichts Grundlegendes geändert: Sie ist immer noch fester Bestandteil der US-Außenpolitik. Darüber hinaus haben sich, wie ausgiebig dokumentiert, durch den milliardenschweren Drogenhandel illegale Mittel angehäuft, welche die CIA zur Finanzierung weiterer Operationen verwendet.
Nach dem 11. September lenken die USA staatliche Mittel in die Finanzierung des militärisch-industriellen Komplexes um, Sozialprogramme werden zusammengestrichen, staatliche Budgets umstrukturiert und Steuergelder in die Aufrüstung des Polizei- und nationalen Sicherheitsapparats kanalisiert. Der Kampf gegen den Terrorismus wird als Legitimationsgrundlage benutzt, um das Rechtssystem zu untergraben und den Rechtsstaat zu zerstören.
Dabei sollen die neuen Gesetze die Bürger gar nicht in ers-ter Linie vor dem Terrorismus schützen, sondern vor allem das System des freien Marktes absichern. In Wirklichkeit geht es darum, die Bürgerrechte zu unterminieren und nicht zuletzt die Entwicklung einer schlagkräftigen Protestbewegung gegen den Krieg und auch gegen die Globalisierung von vornherein zu unterbinden.
In den USA kriminalisiert das im Oktober 2001 verabschiedete Gesetzespaket zur Bekämpfung des Terrorismus (Patriot Act) friedliche Proteste gegen die Globalisierung. Im Sinne dieses Gesetzes sind alle Aktivitäten, die dazu führen könnten, "die Politik einer Regierung durch Einschüchterung und Zwang zu beeinflussen", als terroristische Verbrechen interpretierbar, also z.B. auch "eine Protestdemonstration, durch die eine Straße blockiert und ein Krankenwagen an der Durchfahrt gehindert wird. Insgesamt stellt das neue Gesetz einen der umfassendsten Angriffe auf die bürgerlichen Freiheitsrechte in den letzten 50 Jahren dar. Es dürfte uns kaum mehr Sicherheit bringen, aber es macht uns mit Sicherheit unfreier."
Die vom Kongress abgesegneten Antiterrorgesetze stammen direkt von den Militärs, der Polizei und den Geheimdiensten. Tatsächlich wurden mehrere Merkmale der Gesetze schon vor den Terrorangriffen vom 11. September, in Reaktion auf die Protestbewegung gegen die Globalisierung, entworfen.
Im November 2001 unterzeichnete Präsident George W. Bush einen Erlass zur Einrichtung von Militärtribunalen, vor denen künftige Terrorismusprozesse verhandelt werden sollen: "Mit dieser Direktive liegt es im Ermessen des Präsidenten, ob Personen aus den USA oder auch aus anderen Ländern, die nicht die US-Staatsbürgerschaft haben und die der Beihilfe zum Terrorismus beschuldigt werden, vor einem dieser Tribunale der Prozess gemacht wird. Dies sind keine Kriegsgerichte, die die Rechte der Angeklagten weit mehr re-spektieren … Justizminister John Ashcroft erklärte ausdrücklich, dass Terroristen keinen verfassungsmäßigen Schutz genössen. Diese Gerichte dienen nicht der Rechtsfindung, es sind &Mac221;Aburteilungsgerichte&Mac220;."
Mit den neuen Gesetzen ist die Macht von FBI und CIA erheblich gestärkt worden. Sie können nun z.B. Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften, Journalisten und Intellektuelle routinemäßig abhören und überwachen. Die neuen Gesetze ermöglichen es daher der Polizei, ganz gewöhnliche Bürger auszuspionieren:
"Die neuen Gesetze ermächtigen dieses Geheimgericht, in allen möglichen Strafgerichtsverfahren Abhörungen und geheime Wohnungsdurchsuchungen anzuordnen – und nicht nur auf Geheimdienstinformationen aus dem Ausland zurückzugreifen. Das FBI darf nun Einzelpersonen und Organisationen abhören, ohne an die strengen Anforderungen der Verfassung gebunden zu sein … Umfassende Lektüre von
E-Mails wird erlaubt, noch bevor der Empfänger sie öffnet. Tausende von Unterhaltungen werden abgehört oder gelesen werden, die nichts mit dem Verdächtigen oder irgendeinem Verbrechen zu tun haben.
Die neuen Gesetze enthalten viele andere Ausweitungen von Befugnissen für Fahndung und Strafverfolgung, darunter den vermehrten Einsatz von verdeckten Ermittlern, um Organisationen zu infiltrieren, längere Gefängnisstrafen und die lebenslange Überwachung von manchen Straftätern, die ihre Strafe bereits abgesessen haben. Sie stellen zusätzliche Tatbestände unter Todesstrafe und verlängern bei anderen die Verjährungsfristen ... Die Gesetze definieren ferner eine Reihe neuer Verbrechen. Am bedrohlichsten für abweichende Meinungen und oppositionelle Haltungen gegen die Regierungspolitik ist die Erweiterung des Tatbestandes des Terrorismus. Er wird vage als Akt definiert, der menschliches Leben bedroht, Strafgesetze verletzt und &Mac221;möglicherweise darauf zielt, die Zivilbevölkerung einzuschüchtern oder Zwang auf sie auszuüben&Mac220; … Damit hätten auch die Demonstrationen in Seattle gegen die WTO als terroristisch eingestuft werden können. Diese Verschärfung ist ebenso bedrohlich wie überflüssig, denn es gibt bereits zahlreiche Gesetze, die zivilen Widerstand unter Strafverfolgung stellen, ohne solche altehrwürdigen Proteste als terroristisch zu qualifizieren und mit strengen Gefängnisstrafen zu belegen ... Die US-Regierung versteht den Krieg gegen den Terrorismus als dauerhaften Krieg, ein Krieg ohne Grenzen. Der Terrorismus macht uns allen Angst, aber es ist ebenso beunruhigend, dass unsere Regierung im Namen der Terrorismusbekämpfung bereit ist, auch die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte dauerhaft aufzuheben."
Osama Bin Laden und seine al-Qaida dienen als einzige Begründung für diesen Krieg. Die Bush-Regierung benutzt die Kampagne gegen den internationalen Terrorismus nicht nur, um die umfangreiche Bombardierung ziviler Ziele in Afghanistan zu rechtfertigen, sondern auch, um mit den Maßnahmen gegen den inneren Terrorismus die verfassungsmäßigen Rechte und den Rechtsstaat in den USA außer Kraft zu setzen.
Von den westlichen Medien entsprechend zurechtfrisiert, ist Osama Bin Laden der neue Bösewicht. Er ist zugleich der Grund und die Folge von Krieg und sozialer Verelendung. Er wird zudem für die Toten unter der afghanischen Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht, die doch Opfer der US-Bombardierungen sind. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schloss noch vor den Angriffen auf Afghanistan "den eventuellen Einsatz von Atomwaffen" als Teil der Kampagne gegen Osama Bin Ladens al-Qaida nicht aus.
Vorbemerkung.
Nur wenige Wochen nach dem blutigen Militärputsch in Chile am 11. September 1973, bei dem die gewählte Regierung von Präsident Salvador Allende gestürzt wurde, ordnete die Militärjunta unter General Augusto Pinochet die Anhebung des Brotpreises von elf auf 40 Escudos an. Diese enorme Steigerung von 364 Prozent von einem auf den anderen Tag war Teil einer wirtschaftlichen Schocktherapie, das Werk einer Gruppe von Ökonomen, die man die "Chicago Boys" nannte. Zur Zeit des Militärcoups lehrte ich am Wirtschaftsinstitut der Katholischen Universität von Chile. Dort wimmelte es von Ökonomen, die in Chicago ausgebildet worden waren und der neoliberalen Lehre des Chicagoer Wirtschaftsprofessors Milton Friedman folgten. Am 11. September, nach der Bombardierung des Präsidentenpalastes La Moneda, verhängten die neuen Militärherrscher eine 72-stündige Ausgangssperre. Als die Universität nach einigen Tagen wieder öffnete, jubilierten die Chicago Boys. Nur wenige Wochen später wurden mehrere meiner Kollegen von der Wirtschaftsfakultät in Schlüsselpositionen der Militärregierung berufen.
Während die Lebensmittelpreise in den Himmel schossen, wurden die Löhne eingefroren, um "wirtschaftliche Stabilität" zu sichern und den "Inflationsdruck" abzuwehren. Über Nacht wurde das gesamte Land in elendigste Armut gestürzt. In weniger als einem Jahr stieg der Brotpreis in Chile um das 36fache. 85 Prozent der chilenischen Bevölkerung wurden unter die Armutsschwelle getrieben.
Diese Ereignisse haben meine Arbeit als Ökonom tief geprägt. Ich erlebte mit eigenen Augen, wie durch die Manipulation der Preise, der Löhne und Zinssätze das Leben von Menschen zerstört wurde. Eine ganze Volkswirtschaft wurde destabilisiert. Ich begann zu verstehen, dass die makroökonomische Reform weder neutral war – wie die Hauptströmung der Volkswirtschaftslehre behauptet – noch von den breiteren Prozessen sozialer und politischer Transformation getrennt werden konnte. So konzentrierte ich mich in meinen frühen Arbeiten auf die Funktion, die der so genannte "freie Markt" als gut organisiertes Instrumentarium wirtschaftlicher Repression in der Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärjunta erfüllte.
Zwei Jahre später kehrte ich als Gastprofessor der Universidad Nacional de Córdoba im industriellen Kernland Argentiniens nach Lateinamerika zurück. Mein Aufenthalt fiel mit dem militärischen Staatsstreich von 1976 zusammen. Zehntausende von Menschen wurden verhaftet, verschleppt und ermordet. Die militärische Machtübernahme in Argentinien war eine exakte Kopie des von der CIA gelenkten Putsches in Chile. Auch hier folgten den Massakern und Menschenrechtsverletzungen "marktliberale" Reformen, dieses Mal unter Aufsicht der Gläubiger Argentiniens in New York.
Die tödlichen Wirtschaftsrezepte des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Rahmen der "Strukturanpassungsprogramme" waren damals noch nicht zur offiziellen Politik geworden. Aber die wirtschaftlichen Maßnahmen in Chile und Argentinien im Stil der Chicago Boys waren eine Generalprobe für Dinge, die noch kommen sollten. Bald trafen die Verdikte des freien Marktsystems ein Land nach dem anderen. Seit dem Ausbruch der Schuldenkrise in den 80er Jahren wendete der IWF die gleichen wirtschaftlichen Gesundungsrezepte in mehr als 150 Entwicklungsländern an. Ausgehend von meinen früheren Arbeiten in Chile, Argentinien und Peru begann ich, die globalen Auswirkungen dieser Reformen zu untersuchen, und kam zu der Überzeugung, dass eine Neue Weltordnung Gestalt gewann, die sich unerbittlich von Armut und wirtschaftlichen Verwerfungen nährte.
In der Zwischenzeit wurden die meisten Militärregimes Lateinamerikas durch parlamentarische "Demokratien" ersetzt, betraut mit der schrecklichen Aufgabe, die Volkswirtschaften ihrer Länder im Rahmen der von der Weltbank betriebenen Privatisierungsprogramme unter den Hammer zu bringen.
1990 kehrte ich an die Katholische Universität von Peru zurück, wo ich nach dem Militärputsch von 1973 in Chile gelehrt hatte. Ich kam in Lima an, als gerade der Wahlkampf um die Präsidentschaft voll entbrannt war. Die Wirtschaft des Landes steckte in der Krise. Die scheidende populistische Regierung von Präsident Alan García war vom IWF auf die schwarze Liste gesetzt worden, hatte also keine Kredite mehr bekommen. Neuer Präsident von Peru wurde am 28. Juli 1990 Alberto Fujimori. Und nur wenige Tage darauf schlug die wirtschaftliche Schocktherapie mit voller Wucht zu. Peru wurde abgestraft, weil es sich nicht den Diktaten des IWF gebeugt hatte: Der Preis von Benzin stieg um das 31fache, der Brotpreis um mehr als das Zwölffache an einem einzigen Tag. Der IWF – in enger Beratung mit dem US-Finanzministerium – zog hinter den Kulissen die Fäden. Diese Reformen – durchgeführt im Namen der Demokratie – waren noch weit vernichtender als jene, die in Chile und Argentinien unter der Faust der Militärherrschaft zustande gekommen waren.
In den 80er und 90er Jahren bereiste ich ausgiebig Afrika. Die Feldforschung für die erste Ausgabe dieses Buches begann in Ruanda, das sich damals trotz des hohen Armutsniveaus noch selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnte. Aber seit Anfang der 90er Jahre wurde die funktionierende Volkswirtschaft Ruandas zerstört, seine einst blühende Landwirtschaft destabilisiert. Der IWF hatte die Öffnung des heimischen Marktes für billige US-amerikanische und europäische Getreideüberschüsse verlangt, angeblich mit dem Ziel, die ruandischen Bauern zu größerer "Wettbewerbsfähigkeit" zu ermutigen (siehe Kapitel 7).
Von 1992 bis 1995 unternahm ich weitere Feldforschungen in Indien, Bangladesch und Vietnam und kehrte nach Lateinamerika zurück, um meine Untersuchung über Brasilien abzuschließen. In allen Ländern, die ich besuchte, einschließlich Kenias, Nigerias, Ägyptens, Marokkos und der Philippinen, beobachtete ich das gleiche Muster wirtschaftlicher Manipulation und politischer Einmischung durch die internationalen Finanzorganisationen in Washington. In Indien wurden als direkte Folge der IWF-Reformen Millionen von Menschen in den Hunger getrieben. In Vietnam, einer der prosperierendsten Reiswirtschaften, brachen lokale Hungersnöte aus, die eine direkte Konsequenz der Aufhebung der Preiskontrollen und Deregulierung des Getreidemarktes waren.
Nach dem Kalten Krieg, auf der Höhe der Wirtschaftskrise, reiste ich in mehrere Städte und ländliche Gebiete Russlands. Die vom IWF geförderten Reformen waren in eine neue Phase getreten und machten nun auch den Ländern des ehemaligen Ostblocks schwer zu schaffen. Ab dem Jahr 1992 sind weite Teile der ehemaligen Sowjetunion vom Baltikum bis Ostsibirien in bitterste Armut gestürzt worden.
Die Arbeiten an der ersten Auflage dieses Buches waren Anfang 1996 beendet, mit Ausnahme einer detaillierten Studie über den wirtschaftlichen Zerfall Jugoslawiens (s. Kapitel 17). Dort wurde von den Weltbankökonomen ein "Bankrottprogramm" auf den Weg gebracht, dem 1989/90 etwa 1100 Industrieunternehmen zum Opfer fielen. Über 614.000 Arbeitnehmer verloren ihren Job. Aber das war erst der Anfang einer viel durchgreifenderen wirtschaftlichen Zerstückelung des jugoslawischen Bundesstaates.
Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage hat sich die Welt dramatisch verändert. Die Globalisierung der Armut hat mittlerweile alle großen Regionen der Erde einschließlich Westeuropas und Nordamerikas erfasst. Eine Neue Weltordnung wurde errichtet, die die nationale Souveränität und die Rechte der Bürger untergräbt. Die neuen Regeln der 1994 gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) sichern den weltgrößten Banken und multinationalen Konzernen verbriefte Rechte zu. Die öffentlichen Schulden sind explodiert und die staatlichen Institutionen zusammengebrochen, während die Anhäufung privaten Reichtums unerbittlich voranschreitet.
Die neuen Kapitel dieser zweiten Ausgabe wenden sich einigen der Schlüsselfragen des 21. Jahrhunderts zu: der Fusionswelle und der Konzentration von wirtschaftlicher Macht in der Hand der Konzerne, dem Zusammenbruch der Volks- und Lokalwirtschaften, der Krise der Finanzmärkte, dem Ausbruch von Hunger und Bürgerkrieg sowie dem Abbau des Wohlfahrtsstaates in den meisten westlichen Ländern.
Ich bin vielen Menschen in vielen Ländern zu Dank verpflichtet, die mir Einsicht in die Wirtschaftsreformen in ihren Ländern gaben und mir bei den Untersuchungen vor Ort behilflich waren. Im Verlauf meiner Arbeit kam ich in Kontakt mit Bauern, Industriearbeitern, Lehrern, Beschäftigten im Gesundheitswesen, Staatsbediensteten, Mitgliedern von Forschungsinstitutionen, Universitätsprofessoren und Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen, mit denen ich Bande der Freundschaft und Solidarität geschlossen habe. Dieses Buch ist ihrem Kampf gewidmet.
Ich danke dem Social Sciences and Humanities’ Research Council of Canada und dem Faculty of Social Sciences’ Research Committee der Universität von Ottawa für ihre Unterstützung. Die in diesem Buch vertretenen Ansichten sind meine eigenen.
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