»Unser Planet hat eine neue Zivilgesellschaft«
Wortlaut der Rede von Jean Ziegler, dem UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zur Eröffnung des Anti-G-8-Gipfels in Rostock
Meine Damen und Herren, liebe Freunde,
ich danke für die Ehre, die mir zuteil wird, zu Ihnen zu reden. Ich bin sehr beeindruckt vom Programm, von der Thematik, von der Struktur, all der Arbeit, die geleistet wurde, für diesen Gegengipfel. Der große Vorsitzende hat mir 35 Minuten zur Verfügung gestellt, um kurz über einige der Hauptthemen einleitend zu reden.
Immanuel Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.« Jeden Tag sterben auf diesem Planeten 100.000 Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Letztes Jahr ist, laut World Food Report, alle fünf Sekunden ein Kind unter sieben Jahren verhungert. 854 Millionen Menschen sind permanent schwerstens unterernährt. Das entspricht einem von sechs Menschen auf diesem Planeten. Alle vier Minuten verliert jemand wegen Mangel an Vitamin A das Augenlicht. Diese Opferzahlen aus dem World Food Report sind unbestritten. Im selben Bericht steht, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Entwicklungsphase ohne Probleme zwölf Milliarden Menschen mit 2700 Kalorien pro Erwachsenem pro Tag ernähren könnte. Wir sind 6,2 Milliarden Menschen auf der Welt. Es gibt keine Fatalität. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind die Güter im Überfluss vorhanden, für alle Grundbedürfnisse, für alle Erdbewohner. Es gibt keine Fatalität für dieses tägliche Massaker. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.
Diese mörderische und absurde Weltordnung tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit. Gegen diese absurde Weltordnung sind wir hier zusammengekommen, nicht um rhetorisch zu protestieren, sondern um analytisch die Kausalitäten zu ergründen, die zu diesem täglichen, unannehmbaren Massaker führen.
Welcher Denkfamilie, welcher Partei, Gewerkschaft, Kirche wir alle auch immer angehören und welchen Sozialisierungsprozess wir erlebt haben – um es mit Kant zu sagen: In uns allen lebt der moralische Imperativ. Dieser moralische Imperativ lebt von der Identität mit den Anderen. Wir haben das Glück, hier in Rostock in Deutschland zu sein – der wahrscheinlich lebendigsten Demokratie dieses Kontinents. Deutschland ist auch drittstärkste Wirtschaftsmacht des Planeten. Ich glaube gleichzeitig sind wir eben auch hier die Stimme der Menschen ohne Stimme. […]
Über 40 Prozent der Weltbevölkerung leben laut Weltbankstatistik unter der extremen Armutslinie. Das sind von den 6,2 Milliarden Menschen, die wir heute auf dem Planeten sind, 2,7 Milliarden Menschen. Sie leben nicht wie Menschen. Und diese Menschen, die sind hier präsent, für die müssen wir hier kämpfen.
Ich habe durch einen befreundeten Bundestagsabgeordneten aus der SPD ein Papier vom 17. Januar 2007 erhalten. Darin teilt die Bundesregierung dem Unterausschuss Globalisierung und Außenwirtschaft des deutschen Bundestages vertraulich die diskutierte Tagesordnung für Heiligendamm mit.
Da steht im ersten Abschnitt: Afrika hat Priorität. Und dann kommt gleich darunter die dringlichste Problematik für Afrika, die der Gipfel lösen will: die Investitionssicherheit. Die Investitionssicherheit! Vom Hunger ist auf den fünf Seiten nicht die Rede. Vom verseuchten Wasser ist nicht die Rede, von den Epidemien ist nicht die Rede, von den von außen angezettelten Bürgerkriegen keine Rede. Es sind gewählte Staatschefs und Ministerpräsidenten auf der anderen Seite des Zauns, die meisten jedenfalls. (...) Aber die Legitimität gibt es trotzdem nicht. Die Legitimität haben die trotzdem nicht.
Erstens vertreten sie nur 13 Prozent der Weltbevölkerung und maßen sich an, für die 87 anderen Prozent auch noch zu reden. Zweitens, was wichtiger ist, was schwer wiegt: Herrscher der Welt, das sind heute die Oligarchien des transkontinentalen Finanzkapitals. Da wir keine Zeit haben, sage ich das ein wenig dogmatisch. Laut Weltbankstatistik 2006 haben die fünfhundert mächtigsten transkontinentalen Privatkonzerne im vergangenen Jahr 52 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes kontrolliert, das heißt die in einem Jahr auf der Welt produzierten Waren, Dienstleistungen, Kapitalien und Patente. Diese transnationalen Gesellschaften, diese kalten Monster, die funktionieren nach dem Profitmaximierungssystem. Und das ist normal.
Der Gesellschaftsvertrag, soziale Gerechtigkeit, die Werte der Aufklärung, die Menschenrechte, die Solidarität – das gehört dem Staat, das gehört der Gemeinschaft freier Bürgerinnen und Bürger. Es wäre falsch, wenn man Nestlé, Siemens, Novartis oder wie die Menschenfreunde alle heißen, irgendwie anklagen würde, sie beförderten nicht die soziale Gerechtigkeit, sie kümmerten sich nicht um Mindestlöhne, sie kümmerten sich nicht um die Menschenrechte in der Dritten Welt. Warum sollten sie auch? Profitmaximierung ist ihr Ziel.
Ich hasse Moral. Es geht nicht darum, zu sagen, der eine ist gut und der andere ist besser. Es geht um ein System der strukturellen Gewalt. Wenn Peter Brabeck, Präsident des weltgrößten Nahrungsmittel- und Trinkwasserkonzerns Nestlé, nicht die Kapitalrendite um 15 Prozent erhöhen würde […] wie das letztes Jahr geschehen ist, dann wäre er weg vom Fenster. Die strukturelle Gewalt im Raubtierkapitalismus ist der Motor. Der wird getrieben von Machtwille, von Gier, von unglaublicher Dynamik. Zwischen 1992 und 2002, in den ersten zehn Jahren der Globalisierung nach Weltbankstatistik, hat sich das Weltbruttosozialprodukt verdoppelt. Ein wenig mehr als verdoppelt sogar. Der Welthandel hat sich verdreifacht. Er hat die magische 6000 Milliarden Grenze des Güter- und Dienstleistungsverkehrs pro Jahr durchbrochen. Der Energiekonsum verdoppelt sich alle vier Jahre. Globalisierung funktioniert.
Nach dem Wegfall der Bipolarität der Staatengesellschaft durch den Zusammenbruch der Sowjetunion im August 1991 ist der kapitalistische Produktionsprozess aus seiner territorialen Beschränkung ausgetreten. Er hat die Welt erobert, hat eine einheitliche Regulierungsinstanz geschaffen – die so genannte »unsichtbare Hand«: den Weltmarkt. Der stellt sich in den Börsen dar, die 24 Stunden das Kapital um die Welt rasen lassen. Ein Schweizer Bankier verkehrt mit seiner Filiale in Tokio in Lichtgeschwindigkeit, 300 000 Kilometer pro Sekunde. Wenn in Tokio die Trader vollgepumpt mit Kokain ins Bett fallen, dann geht es in London, Zürich und Paris los. Wenn dort die Börsen zugehen, dann gehen sie in New York, Ottawa und so weiter auf. Die Kapitalherrschaft, die Herrschaft des Finanzkapitals über das wirtschaftliche Geschehen der Welt, ist fast total. Und diese Oligarchien haben eine Macht, wie sie nie ein König, nie ein Kaiser, nie ein Papst in der Geschichte der Menschheit gehabt hat.
Ihre Legitimationstheorie ist der so genannte Neoliberalismus. Einerseits ist er eine totale Wahnidee. Andererseits funktioniert er eben doch, wenn nämlich sämtliche normativen Kräfte wegfallen – staatliche Autoritäten, Gewerkschaften, Parlamente und so weiter. Dann geht das Kapital in jedem Moment auf der Welt dahin, wo es den maximalen Profit einfahren kann – die Totalliberalisierung. Wenn sämtliche öffentlichen Sektoren des wirtschaftlichen Lebens aufgelöst werden, privatisiert werden, dem Profitmaximierungsprinzip unterworfen werden, dann steigt auch die Kapitalrendite maximal. Aber gleichzeitig steigen die Leichenberge.
Ich komme zurück zum Hunger. 2005 waren 842 Millionen Menschen auf der Welt permanent schwer unterernährt. Ein Jahr später waren es bereits 854 Millionen Menschen. Natürlich kann man sagen, der Anstieg ist nicht so stark, weil die Weltbevölkerung ebenfalls zugenommen hat. Aber das will ich nicht wissen. Wenn wir zwei Stunden zusammen sind, werden 176 Kinder unter sieben Jahren an Hunger gestorben sein. Ein Kind, das am Hunger stirbt, ist ein Kind. Es könnte mein Kind sein, es könnte Ihr Kind sein. Und das stirbt. Und nicht irgendeine demographische Kurve oder eine statistische Zähleinheit.
Es geht ja nicht um Denunziation. Wir wollen uns ja nicht selbst Freude machen, indem wir entrüstet sind. […] Es geht um die analytische Vernunft, oder besser, wie es Friedrich Wilhelm Wege gesagt hat: den Verstand, der jenseits der Vernunft den dialektischen Ablauf der historischen Prozesse versteht. Alle Missstände, die hier im Programm des Gipfels aufgeführt werden […], sind menschengemacht und können vom Menschen umgestoßen und radikal reformiert werden.
Radikal reformiert werden heißt, es gibt keine objektiven Gesetze der Wirtschaft. […] Es ist doch ein Rückfall in die totale Irrationalität, wenn jemand behauptet, wirtschaftliches Geschehen gehorcht objektiven Gesetzen und nicht den Gesetzen des Klassenkampfes, den Gesetzen der gegenteiligen Subjektivität, dem menschlichen Willen. Ich nenne nur ein Beispiel: Hunger. Die Industriestaaten zahlten im vergangenen Jahr 349 Milliarden Dollar Produktions- und Exportsubventionen. Das sind fast eine Milliarde Dollar pro Tag. Sie können heute auf jedem afrikanischen Markt italienisches, französisches und deutsches Gemüse und Früchte zur Hälfte oder zu einem Drittel des Preises äquivalenter Inlandsprodukte kaufen. Und ein paar Meter weiter steht der afrikanische Bauer mit seinen Produkten. Er rackert sich 15 Stunden am Tag ab und hat nicht die geringste Chance, auf ein anständiges Existenzminimum zu kommen. Das ist das Faktum. Die Agrar-Dumpingpolitik – das Überfluten der afrikanischen Märkte mit billigst subventionierten Agrarprodukten durch die Europäer – kann morgen früh gestoppt werden. Durch demokratische Mobilisation.
Solche Beschlüsse fallen in Brüssel. Die Bundeskanzlerin sitzt im Ministerpräsidentenrat. Der Landwirtschaftsminister der Bundesrepublik sitzt im Landwirtschaftsrat. Beide können dort verlangen, dass die Exportsubventionen ersatzlos gestrichen werden. Von 52 Ländern Afrikas sind 37 reine Agrarländer. Die Auslandsschuld, die die 49 ärmsten Länder der Welt vor allem erstickt, betrug am 31. Dezember letzten Jahres 2100 Milliarden Dollar.
Das Gewicht der Mitgliedsländer im Gouverneursrat des Weltwährungsfonds hängt von ihrer Finanzmacht ab. Das Gewicht der Bundesrepublik und des deutschen Finanzministers ist also sehr groß. Durch Mobilisation, durch demokratische Mittel, Wahlen und Appelle der Besserung können wir vom Finanzminister verlangen, dass er am nächsten Dezember in Washington bei der nächsten Generalversammlung des Weltwährungsfonds für die hungernden Kinder in Honduras, in Bangladesch, in der Mongolei, und gegen die Interessen der Gläubigerbanken in Europa und Nordamerika stimmt. Das können wir verlangen.
Der letzte Punkt zu diesem Thema: Es gibt keine Fatalität. Der Neoliberalismus ist heute praktisch zur Einheitsideologie geworden. […] In Niger, dem zweitärmsten Land der Welt, wurde vor drei Jahren das nationale Veterinäramt privatisiert. Das geschah auf Befehl des Weltwährungsfonds, weil das eine Marktverzerrung ist, wenn veterinärmedizinische Artikel einen festen Preis haben, der jetzt noch tief ist. Das stört die multinationalen Gesellschaften. Niger ist ein wunderbares Land: zehn Millionen Einwohner, 1,8 Millionen Quadratkilometer. Die Menschen dort leben vom Vieh, von den Kamelen bis zu den Ziegen, etwa 20.000 Köpfe Vieh. Ich habe mit dem Ministerpräsidenten Hama Amadou über die Privatisierung gesprochen. Er hat gesagt: »Komm mit mir.« Am nächsten Tag sind wir in den Kanisterstädten gewesen. Da leben jetzt, wenn man das leben nennen kann, Tausende und Tausende und Tausende total ruinierter Viehzüchterfamilien. Sie können die Vitamine, die Antiparasitosen, die Impfstoffe des freien Marktes der multinationalen Tierpharmaziegesellschaften einfach nicht zahlen.
Die Liberalisierung muss weg. Es muss eine normative Außenhandelspolitik kommen. Eine normative Außenhandelspolitik bedeutet auch, dass die Welthandelsorganisation und der Weltwährungsfonds ersatzlos aufgelöst werden. Das sind Diktaturen.
Jetzt will ich zum Schluss noch etwas über uns selber sagen, über unsere Bewegung: Wir müssen uns ja auch nach außen verteidigen. Ich glaube, wir sind jetzt an einem Kreuzweg. Natürlich wird bei jedem Gipfel Bewusstsein geschaffen, kommen die Widerstandsfronten zusammen, verstärken sich gegenseitig. Dem Gegner müssen wir nichts erklären. Den müssen wir schlagen. Aber wir müssen uns einer noch nicht bewussten Öffentlichkeit besser erklären, einer noch nicht selbstbewussten Öffentlichkeit.
Karl Marx hat gesagt: »Der Revolutionär muss das Gras wachsen hören.« Heute erleben wir das langsame Wachsen einer planetarischen Zivilgesellschaft. Das hat vor acht Jahren in Seattle angefangen, dann kam Porto Allegre und so weiter und so weiter. Eine neue planetarische Zivilgesellschaft, eine Bruderschaft der Nacht ist entstanden – gemacht von vielen neuen oder alten oder sich in ihrer Mission neu erkannten Sozialformationen: von der Via Campesina bis zu Sektionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes bis zu bestimmten Segmenten der Kirchen, der neuen, wichtigen Attac-Bewegung, der Frauenbewegung, die katholische Frauenbewegung in Köln 2000 für die Entschuldung, Jubiläum 2000. All dies lebende Internet ist heute das neue historische Subjekt.
Es wird immer von uns verlangt, wir sollen jetzt das Gegenprogramm vorlegen: »Was wollt ihr denn? Wo ist das Programm?« Von der Universität Genf kenne ich den Gründer und Chef des World Economic Forums Schwaber. Der sagt: »Sie sind ja gar nicht glaubwürdig.« Er habe noch nie ein kohärentes Anti-Globalisierungsprogramm gesehen, wie diese neue Welt dann wirtschaftlich und sozialpolitisch organisiert ist. Die Frage ist falsch. Und man muss sie als falsch zu erkennen geben. Jeder historische, revolutionäre Prozess läuft haargenau gleich ab. Das menschliche Gewissen weiß, was es nicht will. Wir wollen keine Welthandelsorganisation. Wir wollen keine Zentralbank. Wir wollen keine Steuerparadiese. Wir wollen die Abschaffung der Auslandsschuld. […] Wir wollen die Einführung der Tobin-Steuer. Wir wollen kein Spekulationskapital, das wie die berühmten Heuschrecken über die Ökonomien herfällt und dann, wenn die Profitrate fällt, sich innerhalb weniger Stunden wieder zurückzieht. Wir wollen keine allmächtigen multinationalen Gesellschaften, die keine Normativität anerkennen, die Menschenrechte nicht anerkennen, und die die gesamten Arbeitsverträge, die sie hier unterschreiben, jenseits der Meere nicht anerkennen.
Das ist das Programm von Porto Allegre. Ich könnte Ihnen das herunterlesen. Sie kennen es auswendig. Wir wissen, was wir nicht wollen. So funktioniert der moralische Imperativ.
Wir wissen auch ganz genau, was der Horizont unseres Kampfes ist. Che Guevara hat immer gesagt, Revolutionäre sind Opportunisten, die Prinzipien haben. Wir wissen, was der Horizont ist. Man kann ihn zusammenfassen. Er steht in der universellen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, direkt hergeleitet von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und von der Erklärung »Les droits de l‘homme« von 1789. Die universelle Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen sagt, Artikel 1: »Alle Menschen sind gleich und frei an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewisse begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« Und Artikel 3: »Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person.«
Das ist der Horizont. Wie kommen wir da hin? Das ist das Mysterium der befreiten Freiheit im Menschen. Da brauchen wir nicht irgendeinem auch wohlwollenden Journalisten hypothetische Rechenschaft abzulegen. Wir müssen nicht irgendein Programm erfinden und irgendein Zentralkomitee, das die Entscheidungsinstanz ist. wir sind es mit unserem Gewissen selbst. Nur so geht die Geschichte vorwärts. (...)
Jean Ziegler |