RV- Altersgrenzenanpassungsgesetz
(BT-Drucksache Nr. 16/3794 vom 12.12.2006)
Teil 2
von Dieter Bauer , Senioren-AK IG-Metall Vwst. Erfurt, DGB-Landesseniorenbeirat Th., dessen Vertreter in der AG der DGB-Bezirke der neuen Länder und in der Koordinierungsgruppe der Erfurter Verbände und Organisationen
März 2007
Der Ausschluss einer rückwirkenden vierjährigen Nachzahlung bei fehlerhafter Auslegung von Rentengesetzen durch Bundesbehörden mit Einführung des § 100, Abs. 4 im SGB VI ist Gegenstand dieser Betrachtungen.
Zum besseren Verständnis der Wirkung der Gesetzesänderung nenne ich drei Beispiele zur bisherigen Praxis der Versicherungsträger bei der fehlerhaften Interpretation von Gesetzen und bei höchstrichterlichen Entscheidungen mit der Aufforderung zur Korrektur der Gesetze und der Verwaltungspraxis:
1.)Beim Zusammentreffen von Unfallrente mit Alters- oder Erwerbsminderungsrente werden bei der Rentenberechnung der Beitrittsbürger niedrigere Freibeträge berück-sichtigt, als bei den Bürgern der alten Bundesländer.
Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 20.11.2003, AZ B 13 RJ 5/03 die Verfas-sungswidrigkeit der niedrigeren Freibeträge festgestellt.
Die Versicherungsträger haben den ca. 80 000 Betroffenen die Zahlung der ihnen zustehenden Renten auch auf Antrag verweigert und auf eine ausstehende Gesetzesregelung verwiesen. Lediglich die Kläger erhielten die höhere Rente und die 4-jährige Nachzahlung.
Die grundgesetzwidrige Regelung wurde vom Gesetzgeber nicht korrigiert, im Gegenteil:
Im RV-Nachhaltigkeitsgesetz BGBl. T. I Nr. 38, S. 1791 vom 26.7.2004 Art. 1, Pkt. 19 ist der Austausch eines Begriffs im Sozialgesetzbuch verfügt und in Art. 15 Abs. 2 wird festgelegt, dass dies rückwirkend ab 1. Jan. 1992 in Kraft tritt.
Mit Urteil vom 20. Oktober 2005 (AZ. B 4 RA 13/05) hat das Bundessozialgericht erneut den verfassungsgemäßen Anspruch auf gleiche Freibeträge wie in den alten Bundesländern bestätigt.
Eine höhere Rente und die 4-jährige Nachzahlung erhielten wieder nur die Kläger.
Von den Versicherungsträgern wurden die Urteile immer noch als Einzelfall-entscheidung abgetan und die verfassungswidrige Praxis aufrecht erhalten.
Die Betroffenen, die einen Antrag auf Neuberechnung nach § 44 SGB X gestellt hatten, sollten auf eine Gesetzesänderung warten. Sie werden hingehalten, die volle Leistung erhalten sie nicht.
Nun steht fest, dass die Betroffenen, wollen sie an das ihnen rechtmäßig zustehende Geld kommen, eine Neuberechnung nach § 44 SGB X mit Hinweis auf den verfassungsgemäßen Freibetrag beantragen müssen (Versicherungsnummern, eigenhändige Unterschrift).
Bei Ablehnung der Rentenerhöhung müssen sie Widerspruch dagegen einlegen und müssen auch alle selbst vor dem Sozialgericht klagen.
2.)Das Gesetz zur Reform der Renten für verminderte Erwerbsfähigkeit vom 1. Jan. 2001 sah bei Eintritt in das Rentenalter vor dem 63. Lebensjahr Abschläge von monatlich 0,3% vor, wenn der Renteneintritt früher erfolgt. Doch die Versicherungsträger kürzten auch Renten für unter 60-jährige, obwohl das vom Gesetz ausdrücklich nicht vorgesehen war. Unter 60-jährige können gar nicht missbräuchlich vorzeitig in Rente gehen.
Demzufolge hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 16. Mai 2006 (AZ. B 4 RA 22/05R) diese Verfahrensweise als „gesetzes- und verfassungswidrig“ abgelehnt und den Anspruch auf die ungekürzte Rente bestätigt.
Versicherungsträger und Ministerium für Arbeit und Soziales einigten sich, dieses Urteil als Einzelfallentscheidung zu bewerten, bis weitere Urteile vorliegen.
Den ca. 750 000 Betroffenen wird die volle Rentenleistung unverändert vorenthalten.
3.)In unzähligen Prozessen haben Beitrittsbürger gegen die Verweigerung der Gewährung bzw. Kürzung der Leistung von im Erwerbsleben der DDR erworbenen Rentenansprüchen und –Anwartschaften geklagt. Es sind ca. 8 Millionen Rentnerbetroffen, denen bekanntlich neben der Rentenleistung aus der GRV keine weiteren Alterssicherungsarten geblieben sind. In seinem Urteil vom 28. April 1999 führt das Bundesverfassungsgericht dazu u. a. aus:
„Dass Verbindlichkeiten aus sozialen Sicherungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik nicht in voller Höhe zu erfüllen sind, ist im Einigungsvertrag nicht bestimmt. Der Einigungsvertrag spricht vielmehr davon, dass in der Deutschen Demokratischen Republik erworbene Rentenansprüche und –anwartschaften zu überführen sind. Er normiert außerdem eine Zahlbetragsgarantie und stattet damit bestimmte in der Deutschen Demokratischen Republik erworbene Rentenansprüche und –anwartschaften auch hinsichtlich ihrer Leistungshöhe mit einem Besitzschutz aus. Eben sowenig sind das Rentenüberleitungsgesetz und seine Änderungsgesetze unter Anwendung des Art. 135 a Abs.2 GG ergangen. Deren Zweck besteht gerade darin, die Überleitung von Versorgungsansprüchen und –anwartschaften zu „bewirken“.
Und weiter:
„Denn mit der verfassungskonformen Auslegung wird für Berechtigte aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen – ebenso wie für alle anderen Rentner aus dem Beitrittsgebiet – der an die berufliche Stellung anknüpfende Lebensstandart aufrechterhalten, den sie im Zeitpunkt der Wiedervereinigung hatten“. (BVerfGE 100, 1, 47)
Eine vollständige Umsetzung dieses Grundsatzurteils erfolgte bis heute nicht.
Millionen Beitrittsbürger werden entschädigungslos enteignet. Das ist Menschenrechtsverletzung im Rechtsstaat Deutschland!
Vor dem Hintergrund dieser Beispiele ist das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz zu bewerten.
Von einem Rechtsstaat wäre zu erwarten, dass der Bürger bei Fehlern einer Bundesbehörde im Rahmen der Staatshaftung voll entschädigt wird, so dass er so gestellt wird, als wäre der schädigende Verwaltungsakt nicht eingetreten. Das hieße Entschädigung für den vollen Schaden über die 4-jahresfrist hinaus.
Denn die fehlerhafte Verfahrensweise wurde wissentlich und vorsätzlich bei Missachtung der Einwendungen Betroffener über Jahre aufrechterhalten (s. o.). Damit liegt nach meinem Verständnis eine vorsätzliche Benachteiligung bzw. Schädigung vor, also eine Straftat, denn Rentenansprüche und –anwartschaften sind Eigentum und unterliegen dem Schutz des Grundgesetzes. Der Entzug von Eigentum ohne Entschädigung ist eine Grundgesetz- und Menschenrechtsverletzung.
Dementsprechend darf von einem Rechtsstaat erwartet werden, dass er Mitarbeiter seiner Behörden, die gegen die Rechtsordnung verstoßen, aus dem Dienst entfernt und zur Rechenschaft zieht.
Wir erleben das Gegenteil:
Das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz legalisiert diese Verfahrensweise der Bundesbehörden nicht nur, sondern schränkt die Anwendung des § 44 Absatz 1 SGB X grundsätzlich ein:
Der §44 Absatz 1 des SGB X sieht für die zurückliegenden 4 Jahre die Nachzahlung bei fehlerhaften nicht begünstigenden Verwaltungsakten vor oder wenn von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist, auch wenn der Verwaltungsakt schon rechtskräftig geworden ist.
Mit der Ergänzung des SGB VI, § 100 um den Absatz 4 wird die rückwirkende Nachzahlung in diesen Fällen bei Rentenansprüchen ausgeschlossen. Eine Neuberechnung der Leistung erfolgt dann ab dem Folgemonat nach „Wirksamwerden der Entscheidung desBundesverfassungsgerichtes oder dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung“ wenn der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist.
Was bedeutet das?
1.)Zeigt die Erfahrung, dass die Versicherungsträger selbst wiederholte Entscheidungen mit dem klaren Hinweis auf Verfassungswidrigkeit nicht als „Bestehen einer ständigen Rechtsprechung“ anerkennen. Die Praxis atmet Willkür.
Insofern ist das Gesetz in diesem Punkt unkonkret, indem es offen lässt, unter welchen Bedingungen genau die Regelung wirken soll. Von einem Gesetz sollte Klarheit und Bestimmtheit ausgehen.
2.)Werden ein-eindeutige Grundsatzentscheidungen selbst des höchsten Deutschen Gerichts nicht umgesetzt. Der Gesetzgeber lässt Verfassungsgrundsätze gegen sich selbst nicht gelten, obwohl er genau wie jeder Bürger daran gebunden ist!
Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips werden missachtet.
3.)Angesichts der dargestellten Praxis und der diffusen Vorgaben dieses Gesetzes geht der letzte Rest Rechtssicherheit verloren; an seiner statt erwartet uns die ungeschminkte Willkür.
Zu Punkt B. „Besondere Begründung“
Auf Seite 37 wird unter „Zu Nummer 30 (§ 100)“ unter anderem ausgeführt, dass die mit § 100 Abs. 4 SGB VI zurück genommene 4-jährige Nachzahlung im Interesse der Versicherten sei:
„Sie stärkt das Interesse der Solidargemeinschaft der Versicherten an Rechtssicherheit und der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung gegenüber dem Interesse des einzelnen an einer möglichst langen Nachzahlungsfrist.“
Schöner kann man nicht mitteilen, dass
- die Enteignung persönlichen Eigentums im freien Ermessen der Behörde liegt,
- die Behörde über die Anerkennung oder Nichtanerkennung von Urteilen aus jahrelangen Prozessen frei entscheiden kann,
- das Interesse hunderttausender von einem gleichen Sachverhalt Betroffener als „Interesse des einzelnen“ abgetan wird, welches zurück zustehen hat (s. Beispiele)
- Rechtssicherheit zu einem Begriff verkommt, der gegenteiliges ermöglicht,
- die Durchsetzung legitimer Eigentumsansprüche an Rentenleistungen die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung gefährden würde,
- die Nichtgewährung von berechtigten Rentenleistungen den übrigen Versicherten zu gute käme (was eine der größten Lügen ist, siehe Seite 3 Punkt D.).
Die wirklichen Ziele sind weiter unten erkennbar dargestellt:
D. Finanzielle Auswirkungen
1. Haushaltausgaben ohne Vollzugsaufwendungen
Kurzfassung:
- Der Beitragssatz kann langfristig niedrig gehalten werden.
- Der Bund wird bei den Zahlungen an die allgemeine Rentenversicherung für den Bundeszuschuss und die Beiträge für Kindererziehungszeiten entlastet.
- Der Bund wird bei den Zahlungen für Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, einigungsbedingten Leistungen, der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Altersversorgung der Landwirte entlastet.
2. Vollzugsaufwand
Der entstehende Vollzugsaufwand für die öffentliche Hand ist geringfügig und nicht quantifizierbar.
Wer hat einen Vorteil von der Regelung?
- Niedrige Beitragssätze erhöhen Unternehmensgewinne.
- Geringere Bundeszuschüsse schonen die Staatskasse und ermöglichen weitere Steuergeschenke an die Unternehmen oder Kriegseinsätze.
Wer ist das Opfer des Gesetzes?
- Viele Hunderttausende, die um legitime grundgesetzlich geschützte Rechtsansprüche kämpfen.
- Die gesamte Versichertengemeinschaft, weil der Staat sich aus seiner Verpflichtung zur Finanzierung der beitragsfreien versicherungsfremden Leistungen stielt und diese Lasten der Versichertengemeinschaft aufbürdet, obwohl die Anspruchsberechtigten nicht Versicherte der GRV sein müssen.
Zur Wichtung der Gesetzeslage ein Auszug aus „Meine Grundrechte“ von Hubert Weis, ISBN 3 423 0551 1 (dtv):
„Versichertenrenten und Rentenanwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen dem Eigentumsschutz des Artikel 14 des Grundgesetzes. Dieser Eigentumsschutz ist eine Bestandsgarantie. Denn die Ansprüche auf Leistungen beruhen zum geringsten Teil auf staatlicher Gewährung, sondern vorwiegend auf Leistungen (Beiträgen) des Versicherten. Zwar müssen sich Eigenleistung und Höhe des Rechtsanspruchs nicht immer entsprechen. Daraus folgt aber nicht ein gänzlicher oder teilweiser Wegfall des Eigentumsschutzes, sondern nur, dass der Gesetzgeber bei der inhaltlichen Gestaltung und auch Änderung eines Rechtsanspruchs oder einer sonstigen rentenrechtlichen Position um so freier ist, je weniger die jeweilige Rechtsstellung auf eigenen Leistungen des Berechtigten beruht (BVerfGE 53, 257, 293).
Keinesfalls darf der Gesetzgeber unter dem Etikett einer Inhaltsbestimmung des Eigentums in Wahrheit eine Enteignung durchführen (BVerfGE 42, 263, 295).
Mit der Parole „Ein Drittel der Renten wird heute schon aus Steuermitteln finanziert“, soll der falsche Eindruck vermittelt werden, in diesem Umfang sei das Beitragsaufkommen in der GRV zu niedrig.
Das beinhaltet die falsche Schlussfolgerung, die Rentenleistung beruhen zu einem Drittel auf staatlicher Gewährung und geben dem Gesetzgeber einen entsprechend breiten Gestaltungsspielraum.
Zwei wesentliche Faktoren werden bewusst ausgeblendet:
à der Gesetzgeber selbst hat einige Regelungen getroffen, die dauerhaft hohe Kosten für Leistungen der GRV verursachen, z. B. durch jahrelange Frühverrentung, durch die Vorruhestandsregelung, durch Einbeziehung einigungsbedingter Leistungen in die GRV u. a. m.
à der Gesetzgeber hat sich verpflichtet, Zeiten der Kindererziehung, Wehrdienst- und Wehrersatzdienstzeiten, Zeiten der Arbeitslosigkeit, die Alterssicherung der Heimkehrer u. a. m. aus der staatlichen GRV rentenrechtlich zu vergüten.
Der Bundeszuschuss für diese Leistungen wird „eingefroren“ und die Last der Versichertengemeinschaft aufgebürdet.
Es kann nicht sein, dass der Staatshaushalt zu Lasten der Versicherten saniert wird!
Ein präziser Nachweis der Kosten aller beitragsfreien Leistungen der GRV ist in den Regierungsberichten nicht zu finden. Aus anderer Quelle wird berichtet, dass der Bundeszuschuss zur GRV kaum die Verpflichtung des Bundes für die beitragsfreien Leistungen aus der staatlichen GRV deckt. (Siehe auch Stellungnahme des Sozialbeirates zum RVB und ASiD 2005).
Insgesamt wird der Eigentumsschutz, der Rechts- und Sozialstaatsgedanke und der Gleichheitssatz des GG verletzt.
Die bisherigen und die geplanten Leistungseinschnitte treffen alle Erwerbstätigen, Sozialgeldempfänger und Rentner in Deutschland.
Von den Verbänden, Organisationen und Gewerkschaften sollte gemeinsamer Widerstand (Netzwerk) aller Betroffenen organisiert werden und über die wahren Zusammenhänge und Ursachen u. a. in ihren Mitgliederzeitungen informiert werden
Nützliche Hinweise für Bürger, die von „nicht begünstigenden Verwaltungsakten“ betroffen sind, finden sich im Internet unter www.ostrentner.de bei Aktuelles „Zu Frage 10“ der Anwaltskanzlei Dres. Christoph.
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