Bürgerschaftliches Engagement
und seine gesellschaftspolitische Bedeutung
In Deutschland sind schätzungsweise zwischen 8 bis 22 Millionen Menschen aus eigener Initiative bürgerschaftlich für ihr Gemeinwesen engagiert, das sind 13 bis 28% der erwachsenen Bevölkerung. Andere Schätzungen gehen auf kommunaler Ebene sogar von mittlerweile 40% aus, wie das vorbildliche Beispiel der 200.000 bürgerschaftlich engagierten Einwohner des Kreises Recklinghausen zeigt. Demnach ist fast jeder zweite bis dritte ehrenamtlich auf lokaler Ebene tätig, zumeist unentgeltlich in der Freizeit, außerhalb der abnehmenden Erwerbsarbeit.
Ohne diesen gemeinnützigen Einsatz der Menschen für das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge wären heutzutage unsere verarmten Städte und Gemeinden gar nicht mehr funktionsfähig - das Gemeinwesen würde ohne diese Selbsthilfe teilweise zusammenbrechen. Vielfach werden deshalb die Finanzierung und die Folgekosten öffentlicher Aufgaben und Einrichtungen inzwischen auf die bürgerschaftlichen Gruppen und Vereine ganz oder teilweise abgewälzt, soweit sie nicht für Privatisierung im Sinne von Kommerzialisierung profitabel erscheinen.
Bürgergesellschaft und Bürgerkommune
Bei diesem Ausmaß an Bürgerengagement spricht man bereits von der „Bürgergesellschaft“ und vor Ort von der „Bürgerkommune“, an der sich die Lebendigkeit eines Gemeinwesens spiegelt, mit seinem kulturellen und sozialen Zusammenhalt und den demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten sowie mit der Akzeptanz von Minderheiten. In vielen Kommunalverwaltungen - als den offiziellen bürgerschaftlichen Institutionen der örtlichen und regionalen Selbstverwaltung - ist ein beinahe „revolutionäres Umdenken“ im Gange: Sie sehen ihre zukünftige Aufgabe in einer aktivierenden, das freie Bürgerengagement unterstützenden und begleitenden Tätigkeit, indem sie ein offenes und freundliches Klima für Bürgerinitiative schaffen. Dazu gehören auch Angebote für öffentliche Kommunikation, für Weiterbildung und Beratung, für Vernetzung der Selbsthilfegruppen usw.
Bürgerpreis und Bürgerkongress: Bürgergesellschaft in Bewegung!
Im Kreis Recklinghausen, der jährlich auch einen Bürgerpreis für vorbildliches bürgerschaftliches Engagement verleiht, wurde im Herbst 2004 eigens eine „Woche des bürgerschaftlichen Engagements“ veranstaltet unter dem Motto: „Engagement macht stark“. Seit 5 Jahren existiert ein regionales „Netzwerk Ehrenamt und Selbsthilfe“ mit einer Kontakstelle, die kreisweit zu allen Themen der Freiwilligenarbeit und Selbsthilfe berät und informiert. Ebenfalls vor 5 Jahren veranstaltete das Land NRW einen ganztägigen öffentlichen Kongress und Infomarkt für engagierte Bürger, Initiativen, Vereine und Kommunen zur Praxis des bürgerschaftlichen Engagements in den Bürgerkommunen unter dem Motto: „Lokal aktiv“. Unter dem Aspekt des „aktivierenden Staates“ in der Bürgergesellschaft ging es um Themen wie Bürgerbefragung und -beteiligung, um Bürgergutachten und -stiftungen, um Eigenleistungen und Patenschaften, aber auch um „lokale Agenda 21“ und Netzwerke,, ferner um selbstverwaltete Kulturzentren, um Planungsbeteiligung, Bürgerdialoge und Bürgerhaushalt und vieles mehr. Die Bürgergesellschaft ist in Bewegung!
Gemeinnützige Tätigkeit als bezahltes Ehrenamt?
Zwischenzeitlich sind die ehrenamtlich Tätigen durch die öffentliche Hand bei Ausübung des Ehrenamtes gegen Unfälle versichert. Darüber hinaus hat auf der Bundesebene eine Enquete-Kommission des Bundestages „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ kürzlich etwas Bemerkenswertes angestoßen: Sie will freiwilliges Engagement der Bürger für die Allgemeinheit fördern, indem gemeinnützige Betätigung auch als Teil bezahlter Arbeitsleistungen der Erwerbsarbeit gleichgestellt wird, entweder über Entgelt oder durch beruflich bezahlten Zeitausgleich für ehrenamtliche Betätigung. Dies wird im „Münchener Modell“ durch Privatbetriebe wie Siemens oder durch die Stadtverwaltung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits praktiziert. „Ehrenamtler“ sind also keine kostenfreien Arbeitskräfte oder Lückenbüßer für staatliche Leistungen. Betätigungen und Arbeitsfelder gibt es mehr als genug, auch wenn sie bislang noch keine Anerkennung als bezahlte Erwerbsarbeit finden. Damit soll ein neues gesellschaftliches Bewußtsein angestoßen werden für die Wichtigkeit gemeinnützigen Engagements, ohne dieses eine Gesellschaft nicht zusammenzuhalten ist: Gemeinnutz geht vor Eigennutz!
Trennung von Arbeit und Einkommen: Jeder Mensch wird gebraucht!
Ein grundlegendes Umdenken in der Frage von bezahlter und unbezahlter Arbeit, z.B. über die Trennung von Arbeit und Einkommen durch Einführung eines Grundeinkommens für alle, ist deshalb ebenso im Gange wie eine Diskussion über Arbeitsteilung, Gemeinsinn und Sozialverpflichtung des Eigentums. Das Arbeiten für andere statt für den eigenen Broterwerb und Geldbeutel schafft eine ganz neue, brüderliche oder geschwisterliche Haltung im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben sowie eine gesamtwirtschaftliche statt nur betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise, wenn „Arbeitnehmer“ wie „Arbeitgeber“ darin einbezogen werden und auch die Wirtschaft ihren Beitrag dazu leistet. Mit dieser Sichtweise eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten auch für den sogenannten „Arbeitsmarkt“, auf dem die von Erwerbsarbeit abhängigen Menschen mit ihrer Arbeitskraft immer noch als käufliche Ware oder lästige Kostenfaktoren gehandelt werden. Statt dessen sollte jedem Menschen ein Platz und eine Aufgabe in der Gesellschaft eingeräumt werden, weil alle Fähigkeiten dringend gebraucht werden zur Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft.
Neues Bewußtsein für Gemeinwohlorientierung
Die sich somit entwickelnde „Bürgerkommune“ fühlt sich dem Ausbau partizipativer Demokratie sowie der Pflege der örtlichen Gemeinschaft verpflichtet und will damit ihren Beitrag für eine zukunftsfähige Lebensgemeinschaft in Zeiten der Globalisierung und des Sozialabbaus leisten. Dieses freiwillige Engagement und die Selbstverwaltung von Einrichtungen gehen über das Spektrum der klassischen „Ehrenämter“ längst hinaus und haben neue Beteiligungsformen entwickelt und ermöglicht. Die Übernahme gemeinschaftlicher Aufgaben durch bürgerschaftliche Gruppen und Netzwerke schafft eine Bewußtheit für Gemeinwohlorientierung überhaupt, die aus Politik und Wirtschaft weitgehend verschwunden ist zugunsten der Eigenwohlorientierung, vor dem Hintergrund der ungebremsten marktwirtschaftlichen, sozialdarwinistischen Ideologie des ellbogenstarken Konkurrenzkampfes „Jeder gegen jeden“ anstelle von gelebter Solidarität und gelebter Ethik.
Bürger als soziale Unternehmer: Aktive Bürgergesellschaft grenzt niemanden aus!
Die aktive Bürgergesellschaft kann die Arbeitslosigkeit nicht überwinden, aber sie kann dazu beitragen, daß niemand ausgegrenzt werden muß, der keine Erwerbsarbeit hat. Jeder Mensch hat Fähigkeiten und Ressourcen, welche die Gesellschaft bereichern. Beteiligungsgerechtigkeit heißt: Jeder soll zum Gelingen des Ganzen beitragen (können). Niemand darf ausgegrenzt werden. Dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist eine öffentliche Aufgabe. So wie der wirtschaftliche Reichtum eine entsprechende Infrastruktur braucht, so braucht der soziale Reichtum einer Gesellschaft eine entsprechende soziale Infrastruktur. Die Bürgergesellschaft ergänzt und reformiert den abgebauten Sozialstaat, sie kann und will ihn aber nicht ersetzen. Hier wie dort kosten Investitionen in die Infrastruktur zunächst einmal Geld. Die Bürgergesellschaft ist also keine kurzatmige Anwort auf knappe Kassen. Aber diese Investitionen werden sich mittel- und langfristig auszahlen. Sie werden nicht nur die öffentlichen Haushalte entlasten, sondern das soziale Kapital der Gesellschaft vermehren.
Die Bürgergesellschaft als neue soziale Bewegung
Die Idee der „Bürgergesellschaft“ als einer neuen sozialen Bewegung wird sich über alle Parteigrenzen hinweg deshalb durchsetzen, weil eine funktionierende Gesellschaft sich nicht allein auf den Staat und den Markt verlassen kann, sondern auch sozial aktive Bürger braucht - also nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Unternehmer. Die Bürgergesellschaft stellt sich aber nicht gegen den Markt und den Staat, sondern sie setzt einen handlungsfähigen Staat ebenso voraus wie eine leistungsfähige Wirtschaft. Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll der Staat jedoch dem Bürgerengagement und der Selbstverwaltung den Vortritt lassen und nur dann in Erscheinung treten, wenn nicht alle öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben dadurch abgedeckt werden. Er soll auch nicht umgekehrt alle seine kostenträchtigen Dienstleistungen und Einrichtungen einfach zu seiner Entlastung auf die Bürgerschaft abwälzen und sich aus seiner finanziellen Verantwortung für das Gemeinwohl davon stehlen. Und auch die Wirtschaft sollte sich nach ihrem Selbstverständnis als am Gemeinwohl orientiert verstehen und verhalten, indem sie nicht die kommerzielle Übernahme ehemals öffentlicher Aufgaben anstrebt und indem sie von ihren Gewinnen wieder Steuern zahlt und großzügige Schenkungen an Kultureinrichtungen und Stiftungen, insbesondere an lokale Bürgerstiftungen gibt.
Steigender Stellenwert des Bürgerengagements in Zeiten der Globalisierung
Gerade in Zeiten der Globalisierung gewinnt bürgerschaftliches Engagement vor Ort unter dem Motto „Global denken, lokal handeln“ erhöhten Stellenwert. „Eine ökologische und soziale Neuorientierung der Gesellschaft bedarf der räumlichen Nähe. Erst die Nähe und Überschaubarkeit sozialer Beziehungen schaffen Raum für Verantwortlichkeit. Es ist leichter, sich für das Wohlergehen eines Indianerstammes im fernen Regenwald verantwortlich zu fühlen als für das Wohlergehen derjenigen Menschen, mit denen man Tag für Tag zusammenlebt.“ (Schweisfurth-Stiftung). Die lokale und regionale Ebene spiegelt die gesamten Menschheitsprobleme wie in einem Brennglas. Der Zustand der Welt und der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung und des Konkurrenzkampfes hat sehr viel mit uns selber, mit unseren sozialen und solidarischen Verhaltens- und Handlungsweisen oder Unterlassungen zu tun. Jede lokale und regionale Handlung hat Auswirkungen auf das gesamte Weltgeschehen. Alles in der Welt kommt deshalb auf den gemeinschaftsfähigen Menschen an, der sich zur rechten Zeit mit den anderen zusammentut (Goethes Märchen von der Lilie und der grünen Schlange). Es geht also um die Individualisierung und Regionalisierung der globalen Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann!
Eine andere Welt ist möglich: Die kulturelle und spirituelle Kraft der Zivilgesellschaft
Statt mit einem lähmenden Gefühl der Ohnmacht tagtäglich von allen Erdenstandorten über die Medien wie gebannt auf die Politik der „Staaten- und Weltenlenker“, der in wechselseitige Abhängigkeit verstrickten Partei- und Wirschaftsführer zu blicken, sollten wir erkennen: Die lokale und regionale Handlungsebene und die unterste Demokratie-Ebene der kommunalen Selbstverwaltung eröffnet uns diejenigen Handlungsspielräume, welche die Welt und die Menschen sowie deren soziale Verhältnisse verändern können, wenn wir uns obendrein weltweit vernetzen. Eine andere Welt ist möglich, wenn wir uns zuvor selber verändern! Diese zivilgesellschaftliche Bewegung der „kulturell Kreativen“ ist eine soziale Kulturbewegung, die unsere gefährdete Zivilisation und Menschheitskultur retten und nachhaltig weiterentwickeln kann, je mehr Menschen sich daran aktiv und eigenverantwortlich beteiligen. Damit gewinnt die globale Bürgergesellschaft der Weltbürger spirituelle Dimensionen und Wirkungen. „Gerade diejenigen, die sich in den Dienst derer stellen, die im Dunkel leben, sind die neue Elite“.(Rupert Neudeck).
Wilhelm Neurohr
Autorennotiz:
Der 53-jährige Autor war selber schon in jungen Jahren - zunächst in der kirchlichen Jugendarbeit, dann ehrenamtlich in studentischen Gremien und politischen Jugendorganisationen - und fortan lebenslänglich bürgerschaftlich und ehrenamtlich engagiert: Mit der Gründung des „Hertener Bürgerforums“ und seinen Stadtteilbeiräten Anfang der 70-er Jahre organisierte er ein damals überregional bekanntes Modellprojekt. In zahlreichen Bürgerinitiativen wie z.B. auch „Pro Recklinghausen“ setzte er sich in den Folgejahren z.B. für Umweltbelange und Partizipation an der kommunalen Planung ein, für soziale und kulturelle Einrichtungen und in den 80-er Jahren mit Erfolg für die Rettung des alten Knappschaftskrankenhauses vor dem Abriß.
In Recklinghausen war er auch an einer Elterninitiative zur erfolgreichen Gründung eines Kindergartens in freier Trägerschaft beteiligt, betätigte sich in selbstverwalteten schulischen Einrichtungen in Nachbarstädten. Im Heimatverein setzte er sich eine Zeitlang für Stadtbild- und denkmalpflegerische Belange ein und war von 1990 bis 1995 ehrenamtlicher Autor für den Vestischen Heimatkalender. Neben der Mitbegründung von Orts- und Regionalgruppen zivilgesellschaftlicher und sozialer Initiativen und Vereine (z.B. für soziale Zukunftsfragen im Ruhrgebiet oder Sozialforum und attac Recklinghausen) und ehrenamtlich in gewerkschaftlichen und parteipolitischen Gremien und im Berufsverband sowie als ehrenamtlicher Richter beim Landgericht engagierte er sich auch in überregionalen Netzwerken der Zivilgesellschaft sowie ehrenamtlich in der lokalen Agenda 21, zeitweilig als Sprecher des Fachforums für Stadtentwicklung und Verkehr sowie im Agenda-Forum und Lenkungskreis sowie im Vorstand des Vereins „Pro Alte Feuerwache“.
Im gemeinnützigen Recklinghäuser Verein AVENIR unterstützt er ein Entwicklungsprojekt in Togo/Westafrika. In zahlreichen Publikationen und Vorträgen im In- und Ausland hat er sich wiederholt mit dem bürgerschaftlichen Engagement auseinandergesetzt und überdies die bundesweiten Initiativen für mehr direkte Demokratie unterstützt.
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