Über den Sinn des Lesens
Esther Hesse
Es ist ein wichtiges Anliegen (u.a.)von uns, Menschen, die politisch interessiert und/oder engagiert sind, oder auch nicht, das Lesen gesellschaftswissenschaftlicher (ökonomischer, philosophischer, politischer, soziologischer, sozialpsychologischer u.v.a.) Literatur ein bisschen schmackhaft zu machen. Nicht unbedingt irgendetwas lesen, das geht natürlich auch, sondern die eigene Situation unter der man leidet, auf ihre Bedingungen hin zu reflektieren. Was soll das bringen, könnte man fragen. „Hör auf mit dem Gequatsche, da gehört ein Molo* rein!“ pflegte man früher in gewissen Kreisen zu sagen, wenn die Debatte zu abgehoben wurde. Und heute sind es in manchen Ländern Selbstmordattentäter, die ebenfalls so vorgehen (wenn sie dies auch nicht aus eigenen Stücken so tun mögen). Gewalt ist also grundsätzlich effektiver, prägnanter, wirkungsvoller als überlegtes Handeln? Ich möchte keine Neuauflage der Gewalt-ja-oder-nein-Debatte, die ist ja schon so oft geführt worden, und außerdem viel besser als ich es hier wiedergeben könnte. Nebenbei: die Anti—Hartz-IV-Soziale-Bewegung in D-land ist nach meinem Empfinden von nichts weiter entfernt als von irgendwelchen Studentenunruhen oder Selbstmordattentaten.
Mir wäre es wichtiger, darauf zu verweisen, was man vom Lesen haben kann oder könnte, wenn man unter gesellschaftlichen Entwicklungen leidet. Daher sollen hier ein paar Vorurteile gegen das Lesen von Büchern genannt und auch dessen Nutzen genannt werden.
Gesellschaftstheorie im folgenden mit GT abgekürzt
Die Vorurteile im Einzelnen:
Vorurteil: Lesen von GT ist langweilig
Der Mensch ist schon rein stammesgeschichtlich so konstruiert, dass er/sie aufmerksam wird, wenn ihn/sie etwas betrifft. Wenn etwa langweilig wird, so meist, weil man es nicht in Bezug zur eigenen Erfahrung bringen kann.
Mein Rat: wirf das Buch in die Ecke, welches Gähnen auslöst, es war das Falsche (das Richtige zur falschen Zeit, das Falsche zur richtigen Zeit…)
Vorurteil: Lesen von GT ist anstrengend
Na, ja kann schon sein, aber Anstrengung wird nicht bewusst empfunden, wenn einem eine Tätigkeit Spaß macht. Hier könnte man vielleicht einen Vergleich mit sportlicher Betätigung ziehen. Man muß sich erst ein wenig aufwärmen. Ein gut geschriebenes Buch wärmt den Leser an, orientiert ihn/sie immer wieder, wo er/sie im Gedankengang jetzt steht.
Mein Rat: Es gibt gerade in der letzten Zeit sehr viel gut geschriebene Literatur, die dem Leser sehr viel Arbeit abnimmt, weil sie ihm/ihr die Information geradezu mundgerecht häppchenweise serviert. Lass Dir Bücher empfehlen, von Leuten, mit denen Du eine Wellenlänge hast.
Vorurteil: Lesen von GT verändert/ bewirkt nix
Eine damit eng verwandte Variante ist „Dann verkommen wir hier ja zum Diskussionsverein!“ Paradoxerweise kommt diese Variante meistens von solchen Gruppierungen, die tatsächlich bei ihren Treffen reden und reden und reden – und am Ende kommt überhaupt nichts heraus. Keine Abmachung, kein Plan, keine gemeinsame Linie, kein gar nichts. Man stößt als ratloses Individuum hinzu – und verlässt das Treffen als ebensolches. Vom Lesen kommt die Neigung zum Diskutieren wohl doch nicht…
Lesen verändert erst mal das Denken der Person, und damit indirekt die Ausrichtung ihres Handelns. Und soziale Bewegungen bestehen nun mal aus dem Handeln vieler einzelnen Menschen…
Mein Rat: ausprobieren. Probieren geht wie immer über Studieren.
Vorurteil: Bücher sind viel zu teuer
Bücher müssen meines Erachtens keinen Schönheitswettbewerb bestehen, daher kann ich eine gebrauchte oder ältere Ausgabe nehmen. Meine absoluten Lieblinge kosteten manchmal bloß 50 Cent oder 1 Euro.
Mein rat: es eine Reihe Bibliotheken, die nicht mal Gebühren nehmen, es sei denn man hält die Abgabefristen nicht ein. Es gibt Kopiergeräte, e-bay, Amazon usw.
Vorurteil: Lesen von GT ist was für „Klugscheisser“. Variante: „für Studierte“
Kann sein, aber m.E. nehmen meistens die Leute den Mund am vollsten, reden am „klügsten“, die am wenigsten Ahnung von etwas haben, weil hier kein „überflüssiges“ Wissen die Aktivität des Sprechorgans hemmen könnte.
Mein Rat: vielleicht lieber nicht lesen, wenn man sich nicht verunsichern lassen will.
Vorurteil: GT lesen ist uncool
Die Haltung dahinter ist schon falsch, da man die Umgebung höher bewertet als den eigenen Nutzen. Man lebt also für andere, muß dabei aber gleichzeitig so tun, als sei das Urteil anderer für einen vollkommen irrelevant. Ich weiß nicht, ob dieser psychologische Eiertanz wirklich so überzeugend ist. Cool, zu deutsch „kalt, kühl“ meint vermutlich eine unbewegte, unbeeindruckte, „souveräne“ Geisteshaltung. Da kann ein bisschen Durchblick nur nützen.
Mein Rat: Wer Angst um seine persönliche Wirkung auf andere hat, dem sei die Uralt-Weisheit mitgegeben: Wer sich interessiert, wirkt interessant.
Vorurteil: Habe keine Zeit dafür/Wichtigeres zu tun
Es ist eine Frage der Prioritätensetzung. Für Dinge, die man wichtig erachtet, hat man Zeit, denn man nimmt sie sich.
Vorurteil: Man wirkt/klingt arrogant/merkwürdig, wenn man zuviel GT liest
Um eine geschweifte Sprache zu bekommen, muß man über viele Jahre extrem viel „Geschweiftes“ lesen. Darum geht es hier gar nicht. Das Argument erinnert mich an die Befürchtung, durch gelegentliches Heben und Senken von Hanteln in diversen Fitnesstempeln bekäme man schlagartig riesige Muskelberge (die man noch dazu hinterher nicht mehr wegbekomme).
Die Vorteile des Lesens gesellschaftstheoretischer Literatur liegen auf der Hand:
- Man bekommt Distanz zur ganz speziell eigenen Lage, da man sozusagen die „allgemeine Lage“ sondiert, und sich in ein Feld einordnen kann, anstelle als Einzelindividuum „allein“ dazustehen. Daher kann es durchaus belastenden Charakter haben. Die eigene Benachteiligung relativiert sich zugunsten der Erkenntnis vielfältiger sozialer Problemlagen.
- Man bekommt mehr Gespür für die Dynamik, Veränderlichkeit sozialer Lagen und erkennt sich abzeichnende Entwicklungen leichter bzw. früher.
- Man steht weniger hilflos vor dem „Namenlosen“, bekommt Begriffe und Kategorien an die Hand, nach denen man das Beobachtete, Erlebte, Gehörte einordnen kann.
- Man ist nicht mehr reiner Spielball gesellschaftlicher Meinungsmache.
Oder, viel schöner ausgedrückt (zitiert bei Gdaniec, C. in F. Haug & K. Hauser (1986): Der Widerspenstigen Lähmung. Berlin, in Anlehnung an Gramsci, A. (1984): Notizen zu Sprache und Kultur. Leipzig, Weimar, S.57f.):
„Sollen wir es vorziehen, in unzusammenhängender und zufälliger Weise und Ohne kritisches Bewusstsein zu ‚denken’, also lediglich ‚Teilhaber/innen’ einer von außen mechanisch ‚aufgezwungenen’ Weltanschauung zu sein, oder ist es besser, die eigenen Weltanschauung bewusst und kritisch zu entwickeln und also im Zusammenhang mit einer solchen Arbeit des eigenen Gehirns die eigene Tätigkeitsspähre zu wählen, aktiv an der Gestaltung der Weltgeschichte teilzunehmen, unsere eigenen Führer/innen zu sein und die Prägung der eigenen Persönlichkeit durch äußeren Einfluß nicht passiv und Unterwürfig hinzunehmen?“
* Molotow-Cocktail, mit Benzin gefüllte und angezündete Flasche |