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Frank Tillmann
Rawls' Gerechtigkeitskonzeption und die Begründung eines voraussetzungslosen relativen Grundeinkommens
Zusammenfassung
Ausgehend von der Annahme der Überparteilichkeit als zentrales Kriterium von Gerechtigkeit befasst sich der vorliegende Text mit der Frage, wie John Rawls Konzeption der Gerechtigkeit in positives Recht übertragen werden könnte. Aus dieser Sicht wird der Rawlssche Urzustand als Ursprung des Gemeinziels einer Maximierung individueller Optionen in der Realität interpretiert und Freiheit als eben diese besondere Qualität menschlicher Existenz. Von der gewählten Perspektive wird Gerechtigkeit als ein handhabbares Optimierungsproblem der Abstimmung allgemeiner Interessen betrachtet. Das Modell des Pareto-Optimums beschreibt dabei die Aufgabe der Subjekte im Urzustand, sich gegenseitig soviel an Optionen zuzuerkennen, bis nur in der Beschneidung bereits verbriefter Rechte geschehen könnte. Dabei versucht der Autor zu veranschaulichen, wie das von Rawls formulierte Differenz-Prinzip zur Institutionalisierung einer Verteilungsregel führt, die jedermann vernünftigerweise wählen würde. In der Verknüfung verschiedener Diskurse der Philosophie, Sozialpolitik sowie der Ökonomie wird ein Entwurf von Verteilungsgerechtigkeit zur Verwirklichung solcher Interessen skizziert, die alle Menschen gleichermaßen miteinander teilen.
Abstract
Accepting impartiality as the criterion of justice the question is gone through in this text addresses how John Rawls’ conception of justice could be transferred into positive law. In this point of view Rawls’ original position is interpreted as the origin of the common purpose of maximisation of individual options in the real life, so freedom is just a synonym for exactly this certain quality of existence. Out of that perspective justice is a manageable problem of optimisation by calibrating common interests. The model of the Pareto-Optimum qualifies the task among people in the original position to concede options to each other until there are no more options to grant without curtailing another. The author seeks to show how Rawls principle of difference leads to the rules of distribution of income anonymous persons would rationally choose. Linking different discourses in philosophy, social policy and economy it is striven to outline a draft of distributive justice which tries to actualise common human interests.
Womöglich außerstande, exakte Kriterien und Gründe anführen zu können, würden viele der Aussage zustimmen, dass die Verhältnisse in der Weltgesellschaft strukturell ungerecht eingerichtet sind. Aus globalem Blickwinkel ist unübersehbar, dass die Voraussetzungen von Kooperation in der Gesellschaft von massiven Dysfunktionalitäten gekennzeichnet sind. Offensichtlich ist die gegenwärtige soziale Ordnung nicht in der Lage, die grundlegenden Bedürfnisse eines Großteils der Menschheit zu befriedigen. So leben annähernd die Hälfte aller Menschen unter prekären bis hin zu unmenschlichen Lebensbedingungen. Etwa 2,7 Mrd. Menschen verfügen über keinerlei sanitäre Einrichtungen, 1,3 Mrd. haben keinen Zugang zu genügend Trinkwasser, die gleiche Anzahl verzeichnet ein Einkommen von weniger als einem USD pro Tag und über 800 Mio. Menschen haben keinerlei medizinische Versorgung und sind stark unterernährt 1 . Auch in den Industrienationen besteht ein augenscheinlicher Defekt der Arbeitsteilung, wo ein gewichtiger Teil der Bevölkerung arbeitslos ist, während andererseits Arbeit de facto in unbegrenztem Umfange vorhanden ist, und die jedoch nicht über den Markt mit dem ersterem zu vermitteln ist.
Nun hinterlässt das Lebenswerk von John Rawls eine gewisse Ratlosigkeit, welche politische Konsequenzen insbesondere für die Strukturen des Sozialstaates aus diesem wichtigen Beitrag zur praktischen Philosophie zu ziehen sind. Dabei wird das Projekt dieser Arbeit von der Überzeugung getragen, dass es überhaupt möglich und sinnvoll ist, durch einen wissenschaftlichen Zugang zu wichtigen Anleitungen für einen globalen Gesellschaftsentwurf zu gelangen. Dabei folgt meine Rezeption von Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ Condorcets Konzept einer mathématique social , welche die Handlungen der Individuen durch die Wissenschaften vorausschauend zu koordinieren sucht (Dippel 1981: 156f). Unter den wissenschaftlichen Disziplinen ist es ein Privileg der Politischen Philosophie, Tabula rasa die soziale Ordnung von Beginn an frei von überlieferten Restriktionen völlig neu zu entwickeln.
Rezeption von Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“
Um die Argumentationskette aufzunehmen, ist es zunächst notwendig, das Rawlssche Konzept der Gerechtigkeit zu vergegenwärtigen und zu untersuchen, inwieweit sein Gedanke des Urzustands zur Gewinnung politischer Regeln genutzt werden kann. Wenn wir nach gerechten Spielregeln des Zusammenlebens suchen, tun wir dies hier und jetzt immer, während das Spiel bereits begonnen hat. Manche Menschen leben gut in der heutigen Gesellschaft, während andere um die nackte Existenz bangen müssen. Dworkin hat diese Situation mit einer Runde von Kartenspielern verglichen, die versuchen, Regeln erst dann festzulegen, wenn sie ihr Blatt schon auf der Hand haben. Dies ist ein schwieriges Unterfangen und führt - selbst wenn Mehrheiten gefunden werden - nicht unbedingt zu gerechten Spielregeln (Dworkin 1990: 67). Nun können die, die über eine gerechte Gesellschaft nachdenken, ihre soziale Position nicht einfach ablegen. Gerade Karl Mannheim hat darauf hingewiesen, wie sehr das Denken in sozialen Positionen verhaftet ist, wobei auch er die Möglichkeit sieht, durch intellektuelle Abstraktion sich diese soziale Bedingtheit des Wissens bewusst zu machen und sie zu kontrollieren (Mannheim 1969). Man kann also versuchen, sich vorzustellen, worauf man sich geeinigt hätte, noch bevor die Karten verteilt worden sind. Dies versucht Rawls mit seinem Gedankenexperiment des Urzustandes zu veranschaulichen.
Meiner Meinung nach sind die Verhandlungsteilnehmer im Urzustand aber noch zu wesentlich weitreichenderen Festlegungen von unmittelbar praktischer Bedeutung in der Lage, als dies von Rawls auseinandergesetzt wurde.
Ausgehend von der bereits vorgestellten Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption sind m. E. Aussagen von zwei verschiedenen Qualitäten abzuleiten, die aufeinander aufbauen. Die gefundenen Regeln sind letztlich das Resultat eines Überlegungsprozesses, den jeder rational denkende Mensch ohne Kenntnis seiner Identität durch vernünftige Abwägungen auch allein nachvollziehen würde. Es reicht schon zu wissen, dass es mindestens eine weitere Person geben wird, mit der er verbindliche Regeln finden muss. Daraus resultieren die Formulierung von Festschreibungen erster und zweiter Ordnung als quasi-objektive menschliche Interessen, die nur theoretischen Gehalt aufweisen, und praktische Anrechte, jedes davon zur Absicherung durch politische Regeln gestützt. Wie Rawls vorschlug, sollen diese Anrechte in späteren realen Situationen durch kein staatliches Recht mehr in Frage gestellt werden können, solange sich ihre Inhaber an die gefundenen Regeln halten.
Die gedachten Personen, die sich im Urzustand begegnen, tragen einen „Schleier des Nichtwissens”, eine auferlegte Unkenntnis über ihre spätere, in der Gesellschaft eingenommene Stellung und über ihre Eigenschaften. Angesichts der Situation der Beteiligten im Urzustand ist die Rede vom „Wunsch nach bestimmten Grundgütern, nach Dingen, die man gern haben möchte, unabhängig davon, was man sonst für Wünsche hat. Im Rahmen der menschlichen Natur gehört also der Wunsch nach ihnen zum Vernünftigsein.” (Rawls 1975: 285f) Diese „Unwissenden“ würden sich auf Regeln einigen, die solchen Interessen entsprechen, die sie alle gleichermaßen miteinander teilen. Und weil sie in ihren Interessen darin übereinstimmen, werden sie für bestimmte Grundregeln leicht einen Konsens finden. Den Teilnehmern dieser Verhandlungssituation ist bewusst, dass die Regeln, auf die sie sich in diesem Urzustand einigen, fortan verbindliche und endgültige Grundsätze sind. Sie wurden in Abwägung möglicher Konsequenzen gefunden und dienen der Regulierung der späteren Beziehung zwischen den Menschen. In der Unkenntnis der eigenen gesellschaftlichen Stellung nimmt jeder Verhandlungsteilnehmer schon von sich aus gleichzeitig die Interessen der anderen wahr und umgekehrt. Alle dort getroffenen Vereinbarungen sind deshalb fair, weil sie überparteilich sind.
Zunächst würden sie einsehen, dass sie sowohl gemeinsame Interessen haben, aber auch widerstreitende. Andererseits besteht ein Interessenkonflikt z.B. darin, wie die in der Kooperation geschaffenen Güter untereinander verteilt werden. Unter den geschilderten Voraussetzungen dieses Gedankenexperiments würden vernünftige Personen ohne Identität sicherstellen, dass auch noch die schlechteste Position, die sich aus der Vereinbarung ergibt, für sie immer noch annehmbar ist. Nach Rawls würden sie sich zumindest auf die zwei bekannten Grundsätze einigen:
1. Das Gleichheitsprinzip, wonach alle Menschen vom Grunde auf gleichgestellt sind. Jedermann soll gleichermaßen Anspruch auf möglichst umfangreiche Grundfreiheiten haben, die mit den Interessen der anderen vereinbar sind.
2. Das Differenzprinzip, das besagt, dass eine Ungleichheit dann gerechtfertigt ist, wenn auch der Niedrigste in der Gesellschaft einen Vorteil daraus erzielt (Rawls 1975: 336).
Die quasi-objektiven Interessen des Menschen
Im Gegensatz zur darauf folgenden Qualitätskategorie von Abmachungen bildet diese nur eine Vorüberlegung zur Bewusstwerdung der eigenen Interessenlage. Praktische Bedeutung für die irdische Wirklichkeit besitzt erst die nächste Überlegungsqualität zweiter Ordnung. Die Idee des Urzustandes bei Rawls greift darauf zurück, dass den anonymen Teilnehmern bestimmte Interessen gemeinsam sind, denen jeder nach rationalen Gründen zustimmen würde. Die Objektivität dieser Interessen wird hier im Sinne einer Überparteilichkeit verstanden. Zunächst ist erst einmal anzuerkennen, dass die Lebensentwürfe und -ziele von Individuen keineswegs verallgemeinert werden können, gerade vor dem Hintergrund vielfältiger Werte und Lebensstile.
Somit können Bedürfnisse also nicht generalisiert werden. Nur eine Aussage ist auf so unterschiedliche Subjekte mit Bestimmtheit allgemein anwendbar: Durch die Verschiedenheit ihrer Interessen besteht das einzige zu benennende Anliegen, das sie alle gleichermaßen teilen, in der Erlangung meistmöglicher Optionen, um dem eigenen subjektiven Glücksstreben optimal nachgehen zu können. Man könnte dies vielleicht als einen den beiden schon genannten vorausgehenden dritten Grundsatz ansehen, auf den sich die Versammlung im Urzustand einigte: Alle Regeln müssen der überparteilichen Maximierung subjektiver Optionen dienen. Dem geht die Einsicht voraus, dass man - später im Leben angekommen - möglicherweise gar nicht alle Optionen brauchen wird, die einem auf Beschluss im Urzustand mitgegeben wurden. Es ist aber weit einfacher, auf sie zu verzichten, als wenn man sie sich vielleicht gegen die anderen Gesellschaftsmitglieder erst mühsam erkämpfen müsste. Natürlich beschneidet sich die eigene Freiheit immer an der des anderen. Es muss aber m.E. als liberaler Irrglaube betrachtet werden, anzunehmen, das Glücksstreben des Einzelnen würde sich von allein zum Wohle der Allgemeinheit addieren. Stattdessen tritt eine Macht- und Besitzzusammenballung auf, die nur durch eine beständige Rückkopplung an das Gemeinwohl ausgeglichen werden kann. Denn in Verhandlungssituationen mit denen, die weniger besitzen und deshalb stärker auf Kooperationen angewiesen sind, kann mehr Gewinn herausgeschlagen werden. Allgemein neigt Ungleichheit zwischen Gesellschaftsmitgliedern oder –bereichen dazu, sich zu verstärken.
Die durchaus schöpferischen Wirkprinzipien der Konkurrenz und der Kooperation müssen in ein bestimmtes Gleichgewicht versetzt werden, damit die Freiheit des Einzelnen nicht in einen Widerspruch zur Gleichheit aller gerät.
General- und Partikularinteressen
Ein Generalinteresse ist dadurch gekennzeichnet, dass es von jedem geteilt wird und an kein einschränkendes Merkmal von Personen gebunden ist, wie z.B. Geschlecht, Nation oder Hautfarbe. Dies trifft aber auf Partikularinteressen zu, die sich gerade dadurch ausweisen, dass theoretisch eine bestimmte Anzahl anderer Personen denkbar ist, die ein genau gegenteiliges Eigeninteresse verfolgen. Als einen weiteren Grundsatz würden sich die Teilnehmer der Verhandlungssituation im Urzustand in dieser Frage für den unbedingten Vorrang der Generalinteressen vor den Partikularinteressen entscheiden. So ist m.M.n. ein Konsens selbst im Urzustand nur über die Verwirklichung der Generalinteressen möglich, partikulare hingegen treffen wir nur in der wirklichen Welt an, die dann jeweils Gegenstand von konkreten politischen Aushandlungen sein müssen.
Die Generalinteressen und ihre politische Wahrung
Der Formulierung von Anrechten praktischen Gehalts im Urzustand geht die bereits beschriebene Einsicht voraus, dass in der realen Welt nicht alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Voraussetzungen (Ressourcen und Talente) haben, sich für ihre Interessen selbst einzusetzen, auch wenn die Verfahren zur Interessenvermittlung gerecht eingerichtet sind. Deshalb würden die Verhandlungsteilnehmer im Urzustand auf die Festschreibung von möglichst vielen Generalinteressen als unveräußerliche Grundrechte bestehen. Diese müssen untereinander widerspruchsfrei sein und selbst eine objektive Qualität aufweisen, weil sie intersubjektiv geteilt werden. Denn die Teilnehmer an der Interessenabstimmung im Urzustand würden sie sich gegenseitig einräumen.
Die Logik einer solchen Verteilungssituation entspricht dabei der Idee des Pareto-Optimums, benannt nach dem italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto. Er hatte damit einen Zustand beschrieben, in dem niemandes Position verbessert werden kann, ohne diejenige eines anderen zu verschlechtern (Gaertner 1993: 18ff). Übertragen auf die Situation des Rawlsschen Urzustands geht es hier darum, einander in dem Maße Optionen zuzuerkennen, solange keine andere angetastet wird. Die hier gemeinten Sockelrechte sollen jedem von Geburt an zuerkannt werden, weil sie von der Überparteilichkeit gegenüber allen herrühren und der Realisierung der fünf folgenden Prinzipien dienen.
Demnach sind die hier aufgeführten Rechte für jedes einzelne Individuum wertvoll, schränken aber dafür kein anderes Generalinteresse ein, sondern schlimmstenfalls besondere Partikularinteressen. Dabei ist es zwar aufschlussreich, diese Interessen zu benennen, aber praktische Wirksamkeit erlangen sie erst dadurch, dass sie jeweils durch politische Regeln umgesetzt werden.
1. Das Recht auf intakte natürliche Lebensgrundlagen würde unter den Teilnehmern im Urzustand auf jeden Fall Zustimmung finden. Denn keiner weiß ja schließlich, wann er zur Welt kommt, möchte aber diese grundlegende Option als sein Lebensrecht verbrieft wissen.
2. Das Anrecht auf die Mobilität, den eigenen Aufenthaltsort im öffentlichen Raum frei zu wählen und aufzusuchen, würde ebenso als Generalinteresse beschlossen werden. Die Verhandlungspartner im Urzustand würden dies ohne Zweifel als eine legitime Erweiterung ihrer Optionen anerkennen.
3. Die Zuerkennung universeller Selbstverfügungsrechte wie körperlicher Unversehrtheit, Souveränität der Person sowie der Meinungs-, Informations- und Religionsfreiheit gehört ebenso zu den Optionen, die jeder für sich in Anspruch nehmen würde, wie es schon in der Gerechtigkeitskonzeption von Rawls angelegt ist und bereits von Locke deklariert wurde (Bouches/Kelly 1997: 16, Waldron 1997: 52f, Tompson 1997: 85ff).
4. Das Anrecht, an der Macht, die über einen selbst ausgeübt wird, beteiligt zu werden, liegt ebenso im Interesse aller. Es würde durch die politische Festschreibung der Mehrheitsdemokratie reale Wirksamkeit gewinnen.
5. Das Ziel maximaler ökonomischer Optionen schließt das Anrecht auf Eigentum ein und eine Beteiligungsquote an Gewinnen aus jeglicher Kooperation. Aber es scheint geboten, die enthaltenen Verfahrensregeln, die sich nicht auf einleuchtende Freiheitsrechte beziehen, genauer zu erörtern.
Verfahrensregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens
Die Festlegung gerade dieser Verfahrensregeln ist für die faire Verhandlung zwischen Partikularinteressen erforderlich. Den Personen im Urzustand sind sie deshalb wichtig, weil sie, wie bereits angemerkt, zwar ihre späteren Partikularinteressen noch nicht kennen, die Vermittlung derselben allerdings auf gerechte Grundsätze verpflichtet wissen wollen, worin sich gleichsam ein Generalinteresse manifestiert.
Zu 1. Da der Schleier des Nichtwissens auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation vernebelt, ist auch das Verhältnis der Generationen zueinander brisant und daher regulationsbedürftig. Aus dem - wie schon erwähnt von Rawls selbst angemahnten - Grundsatz der Generationengerechtigkeit resultiert der Beschluss einer nachhaltigen Ökonomie, d.h. es dürfen nur Ressourcen verbraucht werden, die sich im gleichen Zeitraum regenerieren. So verbietet sich auch, die Anhäufung von Schulden, Umweltfolgekosten oder Risiken zu Lasten kommender Generationen. Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung gilt dabei als Verkörperung der Gerechtigkeit zwischen den Generationen schlechthin (Suchanek 1995).
Zu 4. Die Beteiligten im Urzustand würden deshalb zu der Regelung gelangen, dass Partikularinteressen regulativ im Mehrheitsverfahren entschieden werden müssten, da eine Konsenslösung mit zunehmender Verschiedenheit der Interessen immer unwahrscheinlicher wird. Demokratische Modelle der Interessenvermittlung globalen Ausmaßes würden sicherlich festgelegt, wie dies von Hösle im Entwurf einer Universaldemokratie dargelegt wurde (Ders. 1997). Damit würde dem Gleichheitsgrundsatz sowie dem Grundrecht politischer Machtbeteiligung Rechnung getragen.
Zu 5. Aber gerade die Berücksichtigung der sozialen Frage erweist sich als ein primäres Anliegen der Vermittlungsaufgaben im Urzustand. Wie in allen anderen bereits behandelten Aspekten des Zusammenlebens muss das Individuum im Urzustand zur Erreichung seines Überlegungsgleichgewichts eine Lasten-Nutzen-Kalkulation anstellen, was es besten- oder schlimmstenfalls zu erwarten hat und welche Absicherungen es sich jeweils wünscht. Bezogen auf das finanzielle Einkommen würden sich die Verhandlungsteilnehmer im Urzustand auf eine Beteiligungsregel einigen. Hat also jemand irgendein Einkommen beliebiger Höhe, so macht ihn dies ungleich gegenüber den anderen. Gemäß Rawls´ zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz müssten nun alle anderen daraus auch einen Vorteil ziehen. Die Frage der genauen Festlegung der Beteiligungsrate unterliegt wiederum der Abwägung, sich später einerseits in der Situation des zu Beteiligenden zu befinden oder in der desjenigen, der andere an seinem Einkommen beteiligen muss. Die Beteiligungsrate würde also irgendwo zwischen 0 und 100 Prozent des Einkommens liegen. Wenn der Begünstigte eines Gewinns mehr als 50% seines Einkommens abgeben müsste, dann würde er diese Beteiligungsrate ungerecht finden, da alle anderen zusammen mehr von dem Betrag abbekämen, als er selbst, obwohl er seine Anstrengungen darin investiert hat, den Gewinn zu erzielen. Zwar hätte derjenige, der das Einkommen erwirbt, das Interesse, die Beteiligungsrate gegen 0% laufen zu lassen. Aber als Unwissender im Urzustand führt die gleichzeitige Überlegung, späterer einmal größtmöglich (also zu 100%) an fremden Gewinnen beteiligt zu werden, zu einer Beteiligungsrate, die sich auf 50% einpendelt. In dieser Zwitterrolle, Nutznießer fremder Gewinne aber gleichzeitig Bewahrer des eigenen Einkommens zu sein, würde eine Wahrscheinlichkeit von 1:1 bestehen, sich im späteren Leben auf der einen oder der anderen Seite des Durchschnittseinkommens wiederzufinden. Bei solchen Beteiligungsaussichten würde sich jeder rationale Mensch zu der folgenden Verteilungsregel entschließen: „Wann immer ich ein eigenes Einkommen erziele, teile ich die Hälfte davon unter allen anderen Menschen auf, wenn gleichzeitig jeder andere mit mir und den Übrigen sein Einkommen in gleicher Weise teilt”. Jeder soll also mit jedem teilen, aber in jedem Fall den Hauptlohn seiner Bemühung erhalten. Die beiden Rawlsschen Grundsätze können so in Bezug auf das Einkommen als erfüllt gelten.
Diese Vorstellung mag natürlichen Personen jedoch suspekt vorkommen, scheint doch jedes Verursachungs- bzw. Leistungsprinzip der Wertschöpfung missachtet zu werden, da plötzlich Leute an einem Einkommen beteiligt werden, wofür sie keinerlei Beitrag erbracht haben. Die ökonomischen Leistungen, die heute von wem auch immer erbracht werden, sind demnach nie das Produkt eines Einzelnen, sondern immer das Resultat seiner Zusammenarbeit mit der Menschheit als Ganzer. Dennoch ist die Einkommensaufteilung so bemessen, dass ein Anreiz besteht, überhaupt ökonomische Leistungen zu erbringen. Das Verteilungsmodell mündet in der Vorstellung vom Ich (ego) und dem Anderen (alter) als der übrigen Gesellschaft, die beide beschließen, die Früchte ihrer Arbeit fair miteinander zu teilen. Es beantwortet gleichzeitig die Frage, wann ein Vermögen oder Einkommen gegenüber sozial schwächeren gerechtfertigt ist, nämlich dann, wenn es mit ihnen gerecht geteilt wurde.
Nach Kreckel gibt es jedoch gleich drei verschiedene Verteilungsprinzipien, die jedes für sich genommen einen bestimmten Gehalt an Gerechtigkeit beanspruchen können. Das Gleichheitsprinzip, das eine Unterscheidung der Person ausschließt, das Leistungsprinzip, welches die zur Erzeugung eines Gewinns eingeflossenen Beiträge als Kriterium anlegt, und das Bedürfnisprinzip, wonach Gewinne nach der Bedürftigkeit der Individuen verteilt werden, sind hier zu nennen (Kreckel 1997). Die dargelegte Umsetzung des Rawlsschen Differenzprinzips in einer gegenseitigen Gewinnbeteiligung verbindet m.E. den Gerechtigkeitsgedanken des Leistungsprinzips mit dem der Gleichheit. Eine Einbeziehung des Bedürfnisprinzips erscheint mir hingegen schon deshalb äußerst schwierig, weil es sich auf keinerlei Weise objektivieren lässt. Wenn auch nicht ohne Vorbehalte, kann uns unter fairen Vertragsbedingungen das Einkommen als Maßstab der erbrachten Leistung gelten, wie es von Gauthier vorgeschlagen wurde (Moore 1997). Das Gleichheitsprinzip ist ohnehin als einziges objektives Kriterium zu betrachten, nur was die Bedürfnisse eines Menschen ausmachen, ist schwer fassbar. Zu verschwommen ist die Grenze zwischen dem, was man benötigt und dem, was man sich wünscht. Und letzten Endes sind die Bedürfnisse der Menschen grenzenlos. Daher bleibt nur, die menschlichen Bedürfnisse als Partikularinteressen zu betrachten und sie als Gegenstand den politischen Aushandlungsprozessen zwischen realen Interessen zu überlassen. Wenn man zu dieser Einschätzung gelangt, muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es der Gerechtigkeit widersprechen würde, etwa für Kinder geringere Beteiligungsbeträge als genau die Hälfte des Durchschnittseinkommens festzusetzen, bloß weil ihre Versorgungsbedürfnisse niedriger seien, als die der Erwachsenen. Leistungs- und Gleichheitsprinzip hingegen können in dem beschriebenen Entwurf gegenseitigen Teilens als miteinander verbunden gelten. Denn die Gesamtheit der Gewinne gesellschaftlicher Kooperation wird zu je einer Hälfte nach Leistung und nach dem Gleichheitsgrundsatz aufgeteilt. Eine 50-Prozentige Umlage-Rate ist geradezu der exakte Kompromiss aus den Anrechten des Leistungs- wie des Gleichheitsprinzips. Dennoch ist diese Verteilungsregel des Einkommens in einer Weise angelegt, die das Individuum zu ökonomischen Aktivitäten anspornt, was nur zu jedermanns Vorteil ist. Dies führt zur Begründung eines Grundeinkommens, das voraussetzungslos jedoch nicht als existenzsichernd garantiert ist.
Eine andere Konstitution des Sozialstaates
Eine individuelle Abwägung zwischen dem Stimulus des eigenen gewinnbringenden ökonomischen Engagements und der Möglichkeit, vom Egoismus der anderen in Form der Umlage zu profitieren, würde somit stattfinden und die Herstellung eines globalen Bedürfnismarktes ermöglichen: Steigt das ökonomische Engagement in der Gesellschaft an, so wird eine höhere Wertschöpfung zu beobachten sein, die Einkommen steigen und damit das Niveau der Umlage. Bei steigender Umlage wiederum sinkt die Attraktivität der eigenen ökonomischen Aktivität, woraufhin die Einkommen wieder sinken usw.. Diese rekursive Kopplung führt schließlich zu einer Ausbalancierung und gleichsam zur Stabilisierung der Ökonomie.
In der Konsequenz eines solchen Umverteilungsmodells findet sich ein anderes Verständnis des Sozialstaates, der nicht mehr als Zuteiler von je nach politischer Couleur und Ambition mehr oder weniger beliebig für angemessen befundenen Sozialleistungen amtiert, sondern lediglich die Voraussetzungen und Absicherungen eines gegenseitigen Teilens der Individuen untereinander zu gewährleisten hat. Der Staat hätte sich dann vom Status des Versorgers auf den des Regulators zurückzuziehen (vgl. Hughes 1999). Dem statischen Sozialstaatsmodell der Fixleistungen haushaltlich opportun bemessener Sozialhilfen, Renten und Kindergelder ist m.E. ein dynamisches entgegenzustellen, das dem Umstand Rechnung trägt, dass es einerseits Anrechte auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum gibt, von denen niemand ausgeschlossen werden darf, andererseits die für eine Umverteilung zur Verfügung stehenden Ressourcen jedoch auch begrenzt sind. Dabei würde ein Großteil der heute üblichen Unterhaltungskosten der Sozialadministration entfallen.
Die globale Dimension der Gerechtigkeit eines relativen Grundeinkommens besteht in einer Entwicklungspolitik, die nicht auf Staatskrediten und Wirtschaftsprojekten beruht, sondern bei der materiellen Einkommenssicherung des Individuums ansetzt.
* Der Text stellt einige Hauptgedanken meiner Rawls-Rezeption dar (Tillmann 2004).
1 Quelle: Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung (Haub 2002).
Literatur
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Gaertner, W.; Pareto-Effizienz und normative Ökonomik; Universität Fachbereich Wirtschaftswissenschaften; Osnabrück 1993.
Haub, C.; Dynamik der Weltbevölkerung 2002.; Berlin-Institut für Weltbevölkerung und Globale Entwicklung. Balance-Verlag; Stuttgart 2002.
Hirschel, D.; Einkommensreichtum und seine Ursachen: Die Bestimmungsfaktoren hoher Arbeitseinkommen; Metropolis-Verlag; Marburg 2004.
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Mannheim, K.; Ideologie und Utopie; Verlag Schulte-Bulmke; Frankfurt (M.) 1969.
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Rawls, J.; Eine Theorie der Gerechtigkeit; 1. Auflage; Suhrkamp Taschenbuchverlag; Frankfurt (M.) 1975.
Schnädelbach, H.; Erkenntnistheorie – Zur Einführung; Junius Verlag; Hamburg 2002.
Suchanek, A.; Politischer Liberalismus und das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit; In: Pies, I./
Leschke, M. (Hrsg.); John Rawls´ politischer Liberalismus; Verlag Mohr (Siebeck); Tübingen 1995.
Tillmann, F.; Eine Philosophie des Teilens. Von John Rawls zu einer praktischen Gerechtigkeitsutopie.; Verlag Ille & Riemer; Leipzig 2004.
Tompson, M. P.; Lockes contract in context; In: Boucher, D./ Kelly, P. (ed.) ; The social contract from Hobbes to Rawls, (Reprint); Routledge; London 1997.
Waldron, J.; John Locke: social contract vs. political anthropology; In: Boucher, D./ Kelly, P. (ed.) ; The social contract from Hobbes to Rawls; (Reprint); Routledge; London 1997.
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