Moral und Hartz I – IV
von Klaus Buschendorf
Stellen Sie sich einen Hartz-IV-Empfänger vor, der von seinem „Kundenbetreuer“ in der ARGE einen Tipp bekommt, er möge da und dort vorsprechen. Er geht hin und trifft einen Chef an, sagen wir – den Leiter einer Großküche. Der bestätigt, ja, er brauche einen Essenfahrer. Die Beiden werden sich einig, Handschlag, eine Woche später tritt der glückliche Hartz-IV-Empfänger seine neue Stelle an.
Ihm fällt nach ein paar Tagen auf: Das ist doch eine reguläre Arbeit, die er als Fahrer verrichtet. Er freut sich, das „große Los“ gezogen zu haben. Jetzt muss nur noch die Sache korrigiert werden und ein Arbeitsvertrag her. Er geht zu seinem „Kundenbetreuer“ und berichtet von seiner Entdeckung. Doch er erntet nur ein müdes Schulterzucken.
Ein Betriebsratsmitglied kümmert sich, teilt ihm schließlich mit: Du bist Ein-Euro-Jobber, kriegst keinen. Jedenfalls sagt es das Personalbüro.
Nun hat er zwei Möglichkeiten: Er schluckt und fügt sich. So scheint es üblich zu sein nach jüngsten Untersuchungen. Oder er findet sich nicht ab und beginnt einen Rechtsstreit. Nehmen wir Letzteres. Was passiert?
Mit einem Rechtsanwalt, gestellt von der Gewerkschaft, zieht er vor Gericht. (Einen anderen kann er sich nicht leisten, wäre er nicht in der Gewerkschaft, geht nicht einmal das.) Vor Gericht werden Verordnungen, Gesetze, Durchführungsanordnungen hin- und her gewendet. Jeder normale Sterbliche muss den Überblick verlieren. Der Rechtsanwalt verliert ihn nicht, ist schließlich sein Beruf. Doch das Gericht verwirft seine Beweisanträge. Und entscheidet gegen ihn. Er ruft das Bundesarbeitsgericht an. Das ist ein Revisionsgericht. Für ein solches Gericht ist der eigentliche Fall uninteressant. Es interessiert nur, ob das vorhergehende Gericht nach Beweislage richtig entschied. Mir als Nichtjurist und normalen Sterblichen schwant Unheil: Das vorherige Gericht entschied richtig! Hat es doch die Beweise der Klägerseite nicht zugelassen! Verfahrenstechnisch hat der klagende Hartz-IV-Empfänger keine Chance, nicht einmal „ganz oben“!
Irrsinn? – Praxis.
Dabei ist rechtliches Allgemeingut, dass mündliche Verträge wie schriftliche zu werten sind. Nach üblichen Vorstellungen kam zwischen dem Leiter der Großküche und einem Fahrer ein unbefristeter Arbeitsvertrag zustande mit tariflicher Bezahlung. Doch der „Arbeitgeber“ (im Personalbüro und „weiter oben“) wiegelt ab. Tausend Bestimmungen werden hervor gekramt, vom Sozialgesetzbuch über Hartz I – IV wird schließlich der „Ein-Euro-Job“ bemüht. Warum?
Warum wohl? Und – warum ist das möglich, hat sogar Erfolg? Was ist vom „Fordern und Fördern“ geblieben, jenen Worten, mit denen ein Herr Schröder seine AGENDA 2010 einst begründete? Ein Wust von Bestimmungen verstellt den einfachen Blick auf die Moral, die auf der Strecke bleibt. Wessen Moral?
Nicht nur die Moral der „Großverdiener“ wie Herrn Zumwinkel ist „im Keller“. Von dort oben hat dies schon lange ausgestrahlt die Hierarchie der Wirtschaft hinunter, selbst schon zu den „kleinen“ Arbeitgebern. Der Wirrwarr der Bestimmungen verdrängt ein Unrechtsbewusstsein. Finde die Lücke – und das Gericht (der Rechtsstaat!) gibt dir Recht! Dem Chef der Großküche mag noch die Schamesröte ins Gesicht steigen, wenn er das zu verantworten hätte. Aber das muss er nicht. Er ist Angestellter, hat den Fahrer gefunden, den sein Unternehmen braucht, das Übrige ist Sache des „Personalbüros“. Der Fahrer steht für sich – er hat kein lebendiges Gegenüber, kann keiner Person das Wort „Betrug“ ins Gesicht schleudern. Dabei wäre es das einzige Wort, welches diesem Vorgang angemessen ist.
Es ist ein Betrug, der von der herrschenden Klasse ausgeht, einer Klasse, die dieses Wort „Klasse“ nicht in den Mund nimmt und nicht hören mag. Sie möchte höchstens als „Leistungsträger“ angesprochen werden – und als „Ausbeuter“ schon gar nicht. Diese Worte sind doch überlebt und haben keinen Platz mehr in unserer Demokratie! Oder doch?
Wir sollten heute für einfache Vorgänge in unserer Gesellschaft auch einfache deutsche Worte gebrauchen, kein „Denglich“ und auch kein „geschraubtes Deutsch“. Und Gesetze, die nur Wirrwarr erzeugen, hinter denen sich Betrüger verstecken können, sind schlechte Gesetze. Sie müssen weg.
Agenda 2010 und Moral? Nein – das passt wirklich nicht zusammen!
24.02.2008
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